VERWALTUNGSRECHT
Aufklärungspflicht bei Wiederaufgreifen eines Abschiebungsschutzverfahrens
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Aufklärungspflicht der Gerichte beim Wiederaufgreifen eines Abschiebungsschutzverfahrens
Der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig hat heute entschieden, dass in einem Asylfolgeverfahren, in dem um einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein Wiederaufgreifen des Verfahrens auf Gewährung von ausländerrechtlichem Abschiebungsschutz (gemäß § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 Verwaltungsverfahrensgesetz) gestritten wird, der Sachverhalt von den Tatsachengerichten auch im Hinblick auf eine mögliche Ermessensreduzierung aufzuklären ist.
Der Entscheidung liegt der Fall der 1992 wegen des Bürgerkriegs in Jugoslawien aus dem Kosovo eingereisten Klägerin zugrunde, deren Asylantrag 1996 rechtskräftig abgelehnt wurde. Da das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (künftig: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) über ihren 1997 gestellten Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Folgeantrag) nicht entschied, erhob die Klägerin Ende Mai 1999 – während der Militäraktionen der NATO im Kosovo – Untätigkeitsklage. Im Dezember 1999 – nach dem Ende des Kosovo-Konflikts – lehnte das Bundesamt auch den Folgeantrag ab. Im gerichtlichen Verfahren trug die Klägerin nunmehr ergänzend vor, ihr sei die Rückkehr in ihre Heimat ungeachtet des Endes der serbischen Herrschaft und des Krieges nicht zumutbar. Sie leide nämlich an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die im Kosovo nicht behandelt werden könne. Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim ließ die Berufung zu der Frage zu, ob ein ausländerrechtliches Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 Ausländergesetz vorliegt, und verpflichtete das Bundesamt, insoweit erneut über ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach Ermessen zu entscheiden.
Auf die Revision des Bundesamts hat das Bundesverwaltungsgericht das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs hatte keinen Bestand, weil er nicht selbst geprüft hat, ob die psychische Erkrankung der Klägerin auch im Kosovo behandelt werden kann. Der Verwaltungsgerichtshof hatte das Verfahren an das Bundesamt zurückgegeben, damit dieses sein Ermessen zum Wiederaufgreifen des Verfahrens ausübt. Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass das Tatsachengericht vor einer Rückgabe zur Ermessensausübung an die Behörde selbst prüfen und entscheiden muss, ob eine abschließende Entscheidung zugunsten oder zulasten der Klägerin möglich ist. Zu Lasten der Klägerin wäre dies der Fall, wenn Art und Schwere ihrer Erkrankung kein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis begründen. Zu ihren Gunsten kommt eine abschließende Entscheidung in Betracht, wenn ein Festhalten an der früheren Versagung von Abschiebungsschutz zu schlechterdings unerträglichen Ergebnissen führen würde, insbesondere bei einer extremen Leibes- oder Lebensgefahr im Falle der Rückkehr. In einem solchen Fall müsste auch das Bundesamt das Verfahren wieder aufgreifen, sein Ermessen wäre dann "auf Null" reduziert. Das Berufungsgericht hat die für eine mögliche Ermessensreduzierung notwendigen Tatsachen – hier vor allem Art und Schwere der Erkrankung der Klägerin und deren Behandelbarkeit im Kosovo – zu ermitteln. Das ergibt sich aus seiner gesetzlichen Pflicht, den Sachverhalt aufzuklären und die Sache nach den Verhältnissen im Zeitpunkt seiner Entscheidung "spruchreif" zu machen.
BVerwG 1 C 15.03 – Urteil vom 20. Oktober 2004