EUROPARECHT
EGMR billigt passive Sterbehilfe
Experten-Branchenbuch.de,
zuletzt bearbeitet am:
Straßburg (jur). Passive Sterbehilfe verstößt nicht gegen die Menschenwürde und das Recht auf Leben. Im Mittelpunkt muss dabei immer der mutmaßliche Wille des Patienten stehen, urteilte am Freitag, 5. Juni 2015, die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg (Az.: 46043/14). Voraussetzung ist danach zudem ein klarer gesetzlicher Rahmen im nationalen Recht.
Konkret billigten die Straßburger Richter die Beendigung der künstlichen Ernährung von Vincent Lambert in Frankreich. Der heute 38-Jährige hatte 2008, kurz nach seinem 32. Geburtstag, einen schweren Motorradunfall. Seitdem ist er querschnittsgelähmt und liegt mit schweren Hirnschäden im Koma.
Nach französischem Recht entscheiden die behandelnden und weitere Ärzte, ob die künstliche Ernährung eingestellt werden soll. Im Fall Lamberts hat das Ärztekomitee dies befürwortet. Der Staatsrat, das oberste französische Verwaltungsgericht, hat dies im Juni 2014 in einer ungewöhnlichen Plenumentscheidung bestätigt, weil es auch dem mutmaßlichen Willen Lamberts entspreche.
Die höchstrichterliche Entscheidung wurde in Frankreich kontrovers diskutiert, und auch die Familie war gespalten. Lamberts Frau und die Mehrheit seiner Geschwister befürworteten ein Ende der künstlichen Ernährung. Seine streng katholischen Eltern und zwei Geschwister waren dagegen und riefen den EGMR an.
Auch dort befasste sich die Große Kammer mit dem Fall. Es gehe um „äußerst schwierige medizinische, rechtliche und ethische Fragen“, betonten die Straßburger Richter. Eine große Mehrheit von zwölf der 17 Richter hat die französische Entscheidung nun gebilligt.
Der EGMR betonte, dass nicht alle Mitgliedsstaaten des Europarats die passive Sterbehilfe durch das Abschalten medizinischer Geräte erlauben, aber doch eine Mehrheit. Dies sei auch zulässig, wenn es in einem klaren gesetzlichen Rahmen geschieht. Im Mittelpunkt des Entscheidungsprozesses müssten dabei der Patient und sein tatsächlicher oder mutmaßlicher Wille stehen. Denn es gehe einerseits um das Recht des Patienten auf Leben und andererseits sein Recht auf Selbstbestimmung.
In Frankreich seien die gesetzlichen Vorgaben ausreichend klar. Jedenfalls in der Auslegung des obersten Verwaltungsgerichts stehe auch der Wille des Patienten ausreichend im Mittelpunkt. Im konkreten Fall Lamberts seien alle Gesichtspunkte untersucht worden und alle Sichtweisen angehört worden. Seine Frau und sein Bruder hätten konkrete Äußerungen detailliert geschildert, dass er unter Umständen wie den jetzigen nicht mehr leben wolle. Seine Eltern und die anderen Geschwister dagegen hätten sich nicht auf gegenteilige Äußerungen berufen. Die Entscheidung, die künstliche Ernährung zu beenden, sei daher gerechtfertigt.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz in Dortmund empfahl nach der Straßburger Urteilsverkündung allen Bürgern, eine Patientenverfügung zu verfassen. Ein „unwürdiges Gezerre“, wie jetzt im Fall Lamberts, könne so am besten verhindert werden.
Quelle: © www.juragentur.de - Rechtsnews für Ihre Anwaltshomepage