RECHT ALLGEMEIN
Kindergeld für Polen Teil 2: Problematik des "vorrangig" Berechtigten
Autor: Herr Paul Witkowski - Dolmetscher (beeidigt) und Übersetzer (ermächtigt)
Anspruch auf Kindergeld bei Scheidung bzw. Trennung mit Bezug Deutschland / Polen
Achtung !!! Aktuelle Rechtsprechung des Finanzgerichts !!! (Siehe Ziffer 5.)
1. Problemausriss
Vermehrt gehen Familienkassen dazu über, dem in Deutschland lebenden Kindesvater das Kindergeld versagen, wenn die Mutter das gemeinsame Kind in ihren Haushalt in Polen aufgenommen hat. In diesem Fall, so argumentiert die Familienkasse, sei die Kindermutter gem. § 64 Abs.2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt, deshalb erhalte sie das deutsche Kindergeld und nicht etwa der Kindesvater als einziger Kindergeldberechtigter nach den deutschen Rechtsvorschriften.
Folgende Fallkonstellation ist dafür typisch:
Ein Kindesvater, egal ob deutscher oder polnischer Staatsbürger, ist in Deutschland erwerbstätig, hat folglich dort einen Wohnsitz und erfüllt somit die Voraussetzungen für den Anspruch auf deutsches Kindergeld. Es kommt zur Scheidung der Eheleute oder zur Trennung der Eltern. Die Frau nimmt das gemeinsame Kind mit in ihr Herkunftsland Polen.
Es häufen sich jedoch auch Fälle, in denen die alleinerziehende Mutter in Deutschland erwerbstätig ist und ihre Kinder von den Großeltern in Polen betreuen lässt. Auch hier versagt die Familienkasse bisweilen der Mutter den Anspruch auf das Kindergeld.
Die Familienkasse stützt sich bei der Aufhebung des deutschen Kindergeldes für den Vater in diesen Fällen auf die Regelung des § 64 Abs.2 Satz 1 EStG, wonach bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt wird, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.
Die Besonderheit des hier streitigen Falles (Kindergeld mit Auslandbezug Deutschland/Polen) ist, dass es nur - einen - Kindergeldberechtigten gibt, nämlich denjenigen, der in Deutschland einen Wohnsitz begründet. Wenn die Kindesmutter in Polen lebt, ist sie von vornherein keine Berechtigte im Sinne der deutschen Rechtsvorschriften.
2. Rechtsprechung des EuGH
Wenn nun im Fall einer Ehescheidung oder sonstigen Trennung der Eltern der Kindesvater in Deutschland bleibt und die Kindesmutter mit dem gemeinsamen Kind zurück nach Polen zieht, so entscheidet in diesem Fall die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, dass der Kindesmutter das deutsche Kindergeld - abgeleitet vom Kindesvater - zusteht, obwohl sie selbst nicht Kindergeldberechtigte im Sinne der deutschen Rechtsvorschriften der §§ 62 ff. EStG ist.
Zu der früheren Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 hat der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden,
„dass eine geschiedene Person, die von dem zuständigen Träger des Mitgliedsstaats, in dem sie gewohnt hat und in der ihr früherer Ehegatte weiterhin lebt und arbeitet (hier: Deutschland), Kindergeld erhalten hat, den Anspruch auf dieses Kindergeld beibehält, obwohl sie diesen Staat verlässt, um sich mit ihrem Kind in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Polen) niederzulassen, (...)"
Diese Rechtsprechung erging jedoch nicht in einem Rechtsstreit mit Bezug zu Polen und Deutschland, sondern bezog sich auf andere Länder der EU. In diesem Zusammenhang übernimmt die Familienkasse den Wortlaut der Rechtsprechung. Oft kommt es deshalb vor, dass Kindergeld für ein in Polen lebendes Kind vollständig aufgehoben wird, weil die Kindesmutter in Polen eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hat. Dies ist jedoch für den hier relevanten Fall mit Bezug zu Polen nicht richtig und sollte mit einem Einspruch angefochten werden.
3. Umsetzung der Rechtsprechung des EuGH auf die neue Verordnung EG 883/2004
Die oben genannte Rechtsprechung ist noch zu Art. 73 der früheren Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ergangen. Diese Bestimmung ist weitestgehend inhaltsgleich mit dem Art.67 der seit dem 01.Mai 2010 geltenden Verordnung EG 883/2004:
„Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedsstaates, als ob die Familienangehörigen in diesem Staat wohnen würden."
Nun kann es jedoch dazu kommen, dass die Kindesmutter in Polen nicht erwerbsfähig ist und der Deutschland verbliebene Kindesvater seine Einkommensverhältnisse nicht offen legt. In diesem Fall könnte der Anspruch auf polnisches Kindergeld aufleben, da das Familieneinkommen der Mutter gering ist. Nach der Rechtsprechung des EuGH muss die Kindesmutter Kindergeld aus Deutschland, welches ihr zumindest als Differenzkindergeld zustehen soll, von dem eigentlich Anspruchsberechtigten Kindesvater aus Deutschland ableiten können.
4. Stellungnahme und Ausblick
Gegen die Auszahlung des deutschen Kindergeldes könnte in diesem Fall die damit einher gehende Zweckentfremdung des Kindergeldes sprechen, die in diesem Fall nicht etwa der steuerlichen Entlastung in Deutschland dient, sondern der Familie in Polen zugute kommt.
Weiterhin stünde die Auszahlung des deutschen Kindergeldes in Widerspruch zu der deutschen Rechtsprechung, die im Fall der Scheidung bzw. Trennung der Eltern besagt:
„Derjenige Elternteil, der aufgrund einer Trennung bzw. einer Scheidung den bisher gemeinsamen Familienhaushalt verlässt, verliert damit gleichzeitig seinen Kindergeldanspruch. Denn ab diesem Zeitpunkt gehören die Kinder, die in dem Haushalt des anderen Elternteils verbleiben, nicht mehr zu seinem Haushalt. (...)" (Hessisches Finanzgericht, Urteil vom 04.06.2009, Az.: 3K1664/06, juris)
Für eine weitere Gewährung des Kindergeldes könnte wiederum das Recht auf Freizügigkeit der Unionsbürger sprechen, die die EuGH in seiner Rechtsprechung immer wieder stark gewichtet. Der Grundsatz der neuen Verordnung EG 883/2004 in Bezug auf Familienleistungen besteht darin, dass Deutschland als Mitgliedsstaat die Gewährung von Kindergeld nicht davon abhängig machen darf, dass die Kinder des in Deutschland lebenden Unionsbürgers in einem anderen EU Staat als Deutschland leben.
5. Achtung: Neue Rechtsprechung des Finanzgerichts Rheinland - Pfalz!
Das Finanzgericht Rheinland - Pfalz hat in seinem Urteil vom 23.03.2011 entschieden, dass ein in Polen lebender Elternteil nicht den deutschen Anspruchsvoraussetzungen für Kindergeld unterliegt und damit - nicht - Berechtigter im Sinne von § 64 Abs.2 EStG ist.
Damit wird wie hier vertretene Rechtsauffassung untermauert. Die Familienkassen haben mit Ihrer Strategie zwar eine richtige Intention verfolgt: Das Kindergeld soll direkt beim Aufenthaltsort der Kinder ankommen.
Das Problem ist dabei nur, dass es dafür keine Rechtsgrundlage gibt. Die Familienkasse hat es jedoch zusätzlich den Polen und anderen EU Bürgern erheblich erschwert, das Kindergeld zu erhalten, denn für die Bearbeitung von Kindergeldanträgen aus Polen wird deutschlandweit von eine einzigen Familienkasse bearbeitet. Die Bearbeitung eines Antrags dauert nicht selten länger als ein halbes Jahr. Es werden neue Kindergeldnummern vergeben und die Korrespondenz zwischen Behörde und Anspruchssteller gestaltet sich nicht zuletzt wegen der sprachlichen Barriere sehr schwierig.
Durch das neue Urteil kann diesem Procedere nun ein Ende bereitet werden. Das bedeutet, dass der in Deutschland lebende und arbeitende Elternteil an sofort wieder einen Antrag auf Kindergeld bei der Familienkasse an seinem Wohnort stellen kann. Dieser Antrag sollte jedenfalls juristisch fundiert begründet werden, denn es ist davon auszugehen, dass sich die neue Rechtsprechung des Finanzgerichts noch nicht in allen Familienkassen „rumgesprochen" hat.
Dipl.-Jur. Paul Witkowski
Am Plessenfelde 8, 30659 Hannover
paul.witkowski@gmx.net