ARBEITSRECHT
Altersgrenze für Niederlassung als Vertragsarzt bestätigt
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Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat festgestellt,
dass es mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und
dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) vereinbar ist, Ärzte
jenseits des 55. Lebensjahres nicht mehr neu zur vertragsärztlichen
Versorgung zuzulassen.
I.
Beschwerdeführer (Bf) ist ein 1934 geborener Arzt für Innere Medizin.
Seit 1969 war er an einer Universitätsklinik als Oberarzt und
außerplanmäßiger Professor tätig. Kurz vor seinem 60. Geburtstag
beantragte er erfolglos die Zulassung als Vertragsarzt. Zur Begründung
der Ablehnung bezogen der Zulassungsausschuss und die Gerichte sich auf
§ 98 SGB V und die Zulassungsordnung. Danach ist die erstmalige
Zulassung eines Arztes, der das 55. Lebensjahr vollendet hat - außer in
Härtefällen - ausgeschlossen.
Diese Vorschriften (im Anhang abgedruckt) sind mit dem
Gesundheitsreformgesetz (GRG) 1989 in Kraft getreten. Ziel ihrer
Einführung war die Kostendämpfung im Gesundheitswesen. Dem lag die auf
empirische Erhebungen gestützte Einschätzung des Gesetzgebers zugrunde,
dass die Ausgabensteigerung im Gesundheitswesen auch mit der steigenden
Zahl niedergelassener Ärzte zusammenhängt. Zur Kostendämpfung sind in
den letzten Jahren eine Vielzahl weiterer Maßnahmen zur Stabilisierung
der gesetzlichen Krankenversicherung ergriffen worden. Unter anderem
wurden die Beitragsbemessungsgrenze angehoben, den Versicherten
Zuzahlungen abverlangt, Festbeträge für Arznei- und Hilfsmittel
eingeführt und bestimmte Sachleistungen vollständig aus dem Katalog der
gesetzlichen Krankenversicherung gestrichen. Weiter wurde der
Facharztvorbehalt für die Vertragsarztzulassung eingeführt und eine
absolute Altersgrenze von 68 Jahren für Vertragsärzte festgelegt. Auch
Maßnahmen wie die Budgetierung, die Absenkung der Punktwerte u.s.w.
sollen das Krankenversicherungssystem bei vertretbarer Beitragshöhe für
Versicherte und Arbeitgeberleistungsfähig erhalten.
II.
Mit Beschluss vom 20. März 2001 hat der 1. Senat des BVerfG die
Verfassungsbeschwerde des Bf gegen die Verweigerung der Zulassung
zurückgewiesen. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus:
Die Sicherung der finanziellen Stabilität der Krankenversicherung ist
ein Gemeinwohlbelang von überragendem Gewicht, der Regelungen der
Berufsausübung, aber auch der Berufswahl rechtfertigt. Bei der
Erreichung dieses Ziels hat der Gesetzgeber einen weiten
Gestaltungsspielraum, den er durch die Festlegung der Altersgrenze
nicht überschritten hat. Verfolgt er ein komplexes Ziel - wie die
finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung - mit
vielfältigen Mitteln, ist eine Maßnahme nicht ungeeignet, weil die
Betroffenen andernorts größere Einsparpotentiale sehen. Eine einzelne
Maßnahme ist zur Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks auch nicht
deshalb unverhältnismäßig, weil nicht alle Betroffenen durch die
gesetzlichen Vorkehrungen gleichmäßig belastet werden. Der Gesetzgeber
muss bei der Regelung dieses Bereichs verschiedene, zum Teil
gegenläufige Grundrechtspositionen und Gemeinwohlbelange ausgleichen.
Das Beitragsaufkommen lässt sich nicht beliebig erhöhen; gerade die
Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen stellen den Großteil der
gesetzlich Krankenversicherten. Das System reguliert sich nicht nach
den Kräften des Marktes selbst, denn die Preise für die ärztliche
Leistung werden nicht zwischen Arzt und Patient ausgehandelt, sondern
durch sozialstaatliche Regelungen festgesetzt. Diese eröffnen erst die
Beteiligung an dem umfassenden sozialen Leistungssystem der
gesetzlichen Krankenversicherung, das aus Beiträgen der Versicherten
finanziert wird, von dem auch die Leistungserbringer profitieren und
für dessen Funktionsfähigkeit der Staat die Verantwortung trägt.
Gleichzeitig muss die angemessene Versorgung der Versicherten
gewährleistet sein, eine leistungsfähige Ärzteschaft ist hierfür
Voraussetzung.
Die Kostenbegrenzung ist damit nur eines der Ziele, die der Gesetzgeber
verfolgt, um das System insgesamt funktionsfähig zu erhalten. Zugleich
strebt er an, dass die volkswirtschaftlich für vertretbar gehaltene
Beitragsbelastung, die der Krankenversicherung ihr Finanzierungsvolumen
vorgibt, nicht überschritten und die Verteilung der Finanzmittel den
Zielen der Versorgung der Versicherten mit einem ausreichenden und
zweckmäßigen Schutz im Krankheitsfall gerecht wird. Mehrausgaben in
einem Sektor bedingen dabei notwendigerweise Kürzungen an anderer
Stelle, wenn Beitragserhöhungen vermieden werden sollen.
Auch dieses Streben nach einer ausgewogenen Lastenverteilung gehört zu
den vom Gesetzgeber legitimerweise definierten Zielen einer
strukturellen Ausgewogenheit.
Die getroffenen Maßnahmen sind grundsätzlich geeignet, zur finanziellen
Stabilität der Krankenversicherung beizutragen, wenn auch keine
Einzelmaßnahme nachhaltig gewirkt haben mag. Ihre Festlegung im
Einzelnen ist eine politische Entscheidung, die durch die Verfassung
nicht vorgegeben ist. Insbesondere ist es keine Frage des
Verfassungsrecht, ob sich das Gesamtziel auch auf andere Weise und
besser hätte erreichen lassen.
Auch die hier angegriffene Altersgrenze ist eine solcherart geeignete
Maßnahme. Der Gesetzgeber konnte sich besondere wirtschaftliche
Einsparungen von ihr versprechen. Denn es besteht die auf plausible
Annahmen gestützte Gefahr, dass Personen, die die vertragsärztliche
Tätigkeit nur noch während einer relativ kurzen Zeit (nämlich zwischen
dem 55. und 68. Lebensjahr) ausüben können, erhöhte Umsätze anstreben.
Gerade in den ersten Jahren nach Gründung einer Praxis verbleibt dem
Arzt ein geringerer Anteil seines Umsatzes als Gewinn, da er in der
Regel Kredite abzahlen muss. Es dauert durchschnittlich 12 Jahre, bis
die für einen Praxiserwerb oder eine Praxisgründung notwendigen Kredite
insgesamt zurückgezahlt sind. Haben Ärzte nur wenige Jahre der
Gewinnerzielung aus selbstständiger Tätigkeit zur Verfügung, wollen
aber dennoch durchschnittliche Gewinne erwirtschaften, müssen sie einen
erhöhten Umsatz anstreben, was - aus der Sicht der gesetzlichen
Krankenversicherung unerwünschte - Mengenausweitungen zur Folge haben
kann. Der Gesetzgeber durfte es daher für angezeigt halten, mit den
Zugangsbeschränkungen gerade solche Ärzte fernzuhalten, die angesichts
des sie selbst treffenden wirtschaftlichen Drucks weniger geeignet
erscheinen, kostenbewusst im Gesamtsystem tätig zu werden. Dabei spielt
auch eine Rolle, dass der Vertragsarzt nicht nur die Verantwortung für
die Gesundheit der Bevölkerung trägt, sondern zugleich Sachwalter der
Kassenfinanzen insgesamt ist. Vertragsärzte entscheiden über die
Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit einer Heilbehandlung. Sie
verordnen durchschnittlich Kassenleistungen in Höhe des Vierfachen
ihres Honorars. Allgemeinärzte veranlassen nach Schätzungen sogar das
Siebenfache des eigenen Umsatzes. Sie müssen deshalb Kenntnisse im
Vertragsarztrecht haben und bereit sein, wirtschaftlich vertretbare
Behandlungen in einer betriebswirtschaftlich sinnvollen Weise zu
organisieren. Erfahrungen mit den rechtlichen und wirtschaftlichen
Besonderheiten einer Vertragsarztpraxis werden im Laufe der Jahre
erworben. Ärzte, die bis dahin im Krankenhaus, im Labor oder in der
Forschung tätig waren, konnten diese regelmäßig nicht erwerben. Hierin
liegt ein signifikanter Unterschied gegenüber den gleich alten Ärzten,
die schon seit Jahren an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen.
Der Bf kann auch nicht geltend machen, es gäbe weniger einschneidende
Mittel zur Stabilisierung der Krankenversicherung. Eine Maßnahme ist
nicht deshalb ein milderes Mittel, weil sie nicht den Bf, sondern eine
andere Gruppe trifft. So wäre eine weitere Absenkung der ärztlichen
Vergütung kein milderes Mittel, da sie sich im Wesentlichen gegen die
bereits zugelassenen Vertragsärzte richtet.
Die Altersgrenze von 55 Jahren für eine erstmalige Zulassung als
Vertragsarzt trifft den Bf auch nicht unverhältnismäßig. Es handelt
sich um ein Lebensalter, in dem für abhängig Beschäftigte bereits
Altersteilzeit und Frühverrentung in Betracht kommen. Die Betroffenen
sind in ihrem Beruf, den sie weiter ausüben können, in der Regel
bereits voll etabliert. Auch ist zu berücksichtigen, dass sie die
Entscheidung, sich als Vertragsarzt niederzulassen bevor sie 55 Jahre
alt werden, in großem Umfang selbst in der Hand haben. Die Möglichkeit
einer Härtefallregelung kann untypischen Umständen Rechnung tragen.
BVerfG, Beschluss vom 20. März 2001 - Az. 1 BvR 491/96 -
Die maßgebliche Vorschrift des § 98 SGB V hat folgenden Wortlaut:
Zulassungsverordnungen
1. Die Zulassungsverordnungen regeln das Nähere über die Teilnahme
an der kassenärztlichen Versorgung sowie die zu ihrer Sicherstellung
erforderliche Bedarfsplanung (§ 99) und die Beschränkung von
Zulassungen. Sie werden vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung
mit Zustimmung des Bundesrates als Rechtsverordnung erlassen.
2. Die Zulassungsverordnungen müssen Vorschriften enthalten über
1. bis 11. .....
12. den Ausschluss einer Zulassung oder Ermächtigung von Ärzten,
die das fünfundfünfzigste Lebensjahr vollendet haben, sowie die
Voraussetzungen für Ausnahmen von diesem Grundsatz, soweit die
Ermächtigung zur Sicherstellung erforderlich ist, und in
Härtefällen,
13. bis 15. .....
§ 25 der Zulassungsverordnung für Kassenärzte (Ärzte-ZV)
in der Fassung von Art. 18 Nr. 13 GRG bestimmt ergänzend:
Die Zulassung eines Arztes, der das fünfundfünfzigste
Lebensjahr vollendet hat, ist ausgeschlossen. Der Zulassungs-
ausschuss kann von Satz 1 in Ausnahmefällen abweichen,
wenn dies zur Vermeidung von unbilligen Härten erforderlich
ist.
Die Vorschrift ist gemäß Art 79 Abs. 1 GRG am 1. Januar 1989
in Kraft getreten.