SOZIALRECHT
Berufsgenossenschaft muss nach Arbeitsunfall Sexualassistenz zahlen
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Hannover (jur). Nach einem schweren Arbeitsunfall kann die Berufsgenossenschaft (BG) zur Kostenübernahme einer „Sexualassistenz“ zur Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse des schwerbehinderten Unfallopfers verpflichtet sein. Diese könne im Rahmen eines Persönlichen Budgets als Leistung zur sozialen Teilhabe gewährt werden, um „das gestörte seelische Befinden des Behinderten“ zu verbessern und sein Selbstbewusstsein zu stärken, entschied das Sozialgericht Hannover in einem am Freitag, 15. Juli 2022, bekanntgegebenen Urteil (Az.: S 58 U 134/18).
Damit kann der klagende schwerbehinderte Mann die Kostenübernahme für eine zertifizierte Sexualassistenz verlangen. Der Mann hatte am 27. Dezember 2003 auf dem Heimweg von seiner Berufsausbildungsstätte mit seinem Pkw einen schweren Verkehrsunfall erlitten. Erst am 15. April 2005 konnte er aus der Reha nach Hause entlassen werden.
Es bestanden noch schwere Funktionsbeeinträchtigungen und Hilfebedürftigkeit bei allen Alltagsverrichtungen wie An- und Ausziehen, Körperpflege und Nahrungsaufnahme. Die BG erkannte den Unfall als Arbeitsunfall an. Dem zu einem Grad von 100 schwerbehinderten Mann wurden die Merkzeichen „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung), „G“ (erhebliche Beeinträchtigung im Straßenverkehr), „H“ (Hilflosigkeit) und „B“ (Begleitperson) zuerkannt.
Auf Antrag des Mannes schloss der Unfallversicherungsträger mit ihm einen Vertrag über ein Persönliches Budget. Dabei bewilligte die BG als Leistung zur sozialen Teilhabe in der Gemeinschaft auch Leistungen für Sexualbegleitung durch „zertifizierte Dienstleisterinnen“ für den Zeitraum März 2016 bis insgesamt Februar 2018. Eine Sexualassistenz bietet alten und behinderten Menschen Nähe und ein intimes Zusammensein. Das können einfache Umarmungen, Gespräche oder auch Geschlechtsverkehr sein.
Den Folgeantrag zur Kostenübernahme der Sexualassistenz ab März 2018 lehnte der Unfallversicherungsträger jedoch ab. Leistungen zur Befriedigung des Sexualtriebs fielen nicht unter den Bereich der Heilbehandlung oder Pflege. Es handele sich nicht um eine „Hilfe bei gewöhnlich regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens“. Auch Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft lägen nicht vor, weil die Befriedigung sexueller Bedürfnisse durch den Einsatz Prostituierter nicht die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermögliche oder erleichtere.
Das Sozialgericht urteilte am 11. Juli 2022 jedoch, dass der schwerbehinderte Kläger die Kostenübernahme für eine zertifizierte Sexualassistenz im Rahmen seines Persönlichen Budgets verlangen kann. Leistungen zur sozialen Teilhabe seien nicht darauf beschränkt, Kontakte zur Außenwelt zu knüpfen oder Hilfsmittel zur Bewältigung des Alltags bereitzustellen. Sie sollen auch „das gestörte seelische Befinden des Behinderten verbessern und sein Selbstbewusstsein stärken“. Sexuelle Bedürfnisse könnten hier indirekt eine große Rolle für die persönliche Entwicklung und das seelische Befinden spielen.
So sei eine „selbstbestimmte Sexualität Voraussetzung für eine wirksame und gleichberechtigte Teilhabe und soziale Eingliederung des Menschen mit Behinderung“, urteilte das Sozialgericht. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig.
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Autor: Rechtsanwalt Sebastian Einbock