VERFASSUNGSRECHT
Gerichte dürfen kritischen Anwaltswitz nicht gleich bestrafen
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Straßburg (jur). Ein von einem Anwalt in einem Witz verpackte kritische Bemerkung über die Beweisführung eines Gerichts müssen Richter auch mal aushalten können. Eine auf diese Weise geäußerte Kritik, selbst wenn sie in bissiger oder sogar sarkastischer Form vorgebracht wird, ist vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt und stellt nicht ohne Weiteres eine zu bestrafende persönliche Beleidigung der Richter dar, urteilte am Dienstag, 17. Mai 2022, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg (Az.: 39764/20).
Im konkreten Fall hielt ein Rechtsanwalt aus Bosnien-Herzegowina in einem Zivilverfahren die Beweisführung des Berufungsgerichts für überzogen. In der mündlichen Verhandlung erzählte der Anwalt daraufhin einen Witz über einen Professor, der von seinen Studenten nicht nur die Anzahl, sondern auch die Namen der Opfer des Atombombenangriffs auf Hiroshima erwartete. Er verglich die Art und Weise, wie das Gericht ihn bei der Beweisführung behandelte, mit der Art und Weise, wie die Studenten von ihrem Professor behandelt wurden.
Dem Gericht war jedoch nicht zum Lachen zumute. Die Richter fühlten sich von dem Anwalt beleidigt. In dritter Instanz wurde der Anwalt wegen Missachtung des Gerichts zu einer Geldstrafe von umgerechnet 510 Euro verurteilt.
Der Anwalt zog daraufhin vor dem EGMR.
Die Straßburger Richter urteilten, dass der Anwalt in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt wurde und Bosnien-Herzegowina ihm 510 Euro für den materiellen Schaden, 4.500 Euro Schmerzensgeld sowie weitere 2.550 Euro für die angefallenen Verfahrenskosten zahlen muss.
Zwar müssten Anwälte sich diskret, ehrlich und würdevoll verhalten, „damit die Öffentlichkeit Vertrauen in die Rechtspflege hat“, so der EGMR. Ob eine Geldstrafe wegen eines kritischen Witzes verhältnismäßig ist, hänge vom Gesamtzusammenhang ab. Hier habe der Anwalt seine in einem Witz verpackte Kritik an der Beweisführung nur im Gerichtssaal geäußert. Er habe zudem seinen Mandanten vertreten wollen. Eine persönliche Beleidigung der Richter habe nicht vorgelegen, auch wenn die Äußerungen bissig oder gar sarkastisch waren.
Die nationalen Gerichte hätten dies nicht ausreichend berücksichtigt. Die Geldstrafe sei „in einer demokratischen Gesellschaft“ nicht notwendig gewesen. Die Gerichte hätten ohne ausreichende Begründung in das Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung eingegriffen, urteilte der EGMR.
Quelle: © www.juragentur.de - Rechtsnews für Ihre Anwaltshomepage
Autor: Rechtsanwalt Sebastian Einbock