EU-RECHT
Kein allgemeines Recht für IS-Anhänger auf Rückholaktion nach Europa
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Straßburg (jur). In kurdischen Lagern in Syrien festgehaltene Anhänger des „Islamischen Staates“ haben auch als EU-Bürger kein allgemeines Recht darauf, dass der Staat sie in ihr Heimatland zurückholt. Allerdings können beim Vorliegen außergewöhnlicher Umstände und bei einer Gefährdung der Gesundheit und des Lebens der im Lager festgehaltenen Insassen diese verlangen, dass zumindest eine unabhängige Stelle im Einzelfall ihre Rückführung in ihr Heimatland überprüft, urteilte am Mittwoch, 14. September 2022, die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg zu französischen Anhängerinnen des „Islamischen Staates“ (Az.: 24384/19 und 44234/02). Dies gelte erst recht, wenn minderjährige EU-Bürger in dem Lager ausharren müssen.
Im Streitfall hatten sich zwei französische Großeltern beschwert, dass der französische Staat ihre im Nordosten Syriens im Flüchtlingslager al-Hol festgehaltenen Töchter mitsamt Enkeln nicht nach Frankreich zurückholt. Die Frauen hatten sich zusammen mit ihren Partnern dem „Islamischen Staat“ angeschlossen und waren nach Syrien ausgereist. Einer der Männer starb bei Kämpfen. Die Frauen haben zwei beziehungsweise ein Kind. Das Lager wird von dem Militärbündnis der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) kontrolliert.
Nach Angaben des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes lebten im Juli 2019 rund 70.000 Menschen in dem Zeltlager. Die Situation dort sei „apokalyptisch“. Zwei Drittel der Bewohner seien Kinder, viele davon Waisen oder von ihren Familien getrennt. Berichten von Hilfsorganisationen zufolge litten viele Kinder an Mangelernährung, posttraumatischem Stress oder würden sexuell ausgebeutet. Es herrsche in dem Lager eine Atmosphäre der Gewalt.
Zwischen März 2019 und Januar 2021 holte Frankreich insgesamt 35 Minderjährige mit französischer Staatsangehörigkeit zurück. Im Juli 2022 startete Frankreich erneut eine Rückholaktion für dort festgehaltene französische Staatsbürger. Es konnten noch einmal 35 Minderjährige und 16 Mütter nach Frankreich ausreisen.
Ihre Töchter seien aber nicht dabei gewesen, klagten die Beschwerdeführer. Über ihren Antrag auf Rückführung ihrer Töchter mitsamt Enkel entschieden die Behörden nicht.
Der EGMR urteilte, dass das Vorgehen Frankreichs gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Es gebe zwar kein allgemeines Recht auf Rückführung der französischen IS-Anhängerinnen nach Frankreich. Allerdings habe der Staat bei außergewöhnlichen Umständen die Verpflichtung, die Gesundheit und das Leben der im Flüchtlingslager festgehaltenen Frauen und insbesondere ihrer Kinder zu schützen. Sie müssten daher zumindest eine Chance auf Einreise in das französische Hoheitsgebiet haben. Dazu gehöre, dass die Behörden über einen Antrag auf Rückführung auch förmlich entscheiden. Bei einer Ablehnung müsse die Möglichkeit der Überprüfung von einer unabhängigen Stelle bestehen, auch um Willkür auszuschließen.
Es müsse zudem berücksichtigt werden, dass der Europarat, die EU und auch die kurdischen Behörden die EU-Staaten aufgefordert haben, ihre Staatsangehörigen zurückzuholen.
Der EGMR verurteilte Frankreich dazu, an die beschwerdeführenden Großeltern die Verfahrenskosten in Höhe von 18.000 Euro und 13.200 Euro zu bezahlen.
Quelle: © www.juragentur.de - Rechtsnews für Ihre Anwaltshomepage
Autor: Rechtsanwalt Sebastian Einbock