VERWALTUNGSRECHT
Kein Spießrutenlauf Schwangerer vor Abtreibungsgegnern
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Mannheim (jur). Frauen müssen vor einer Schwangerschaftsberatung von Pro Familia etwas weiter entfernt demonstrierende Abtreibungsgegner hinnehmen. Nur wenn die Versammlung der Abtreibungsgegner „zu einem physischen oder psychischen Spießrutenlauf“ führt und die ratsuchenden Frauen Plakaten und dem Anhören von Gebeten und Gesängen aus nächster Nähe ausgesetzt sind, darf die Versammlungsbehörde Auflagen für die Zusammenkunft anordnen, entschied der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg in einem am Mittwoch, 31. August 2022, bekanntgegebenen Urteil (Az.: 1 S 3575/21). Liege keine unausweichliche Situation vor, müsse das allgemeine Persönlichkeitsrecht der schwangeren Frauen zurücktreten, so die Mannheimer Richter zu Protesten der christlichen Lebensrechtsbewegung „40 Days for Life“.
Im Streitfall wollten die Abtreibungsgegner vor einer Pro Familia-Beratungsstelle in Pforzheim demonstrieren. Für die Dauer von 40 Tagen wollten rund 20 Versammlungsteilnehmer für das „Lebensrecht ungeborener Kinder“ mit einem täglichen stillen Gebet und einer Mahnwache auf Abtreibungen aufmerksam machen. Die Versammlung sollte auf der der Beratungsstelle gegenüberliegenden Straßenseite einer vierspurigen und vielbefahrenen Straße stattfinden.
Die Stadt Pforzheim erlaubte mit Bescheid vom 28. Februar 2019 die Versammlung nur unter Auflagen. Während der Pro Familia-Beratungszeiten werktags von 7.15 Uhr bis 18.00 Uhr dürfe die Mahnwache mitsamt Gesängen und Gebeten nur außerhalb direkter Sichtbeziehung zum Gebäudeeingang stattfinden. Die Kommune verwies darauf, dass in der Vergangenheit bei vergleichbaren Versammlungen von „40 Days for Life“ Schwangere und Pro Familie-Mitarbeiter sich bedrängt gefühlt hätten.
Die christliche Gruppierung bestritt die Vorwürfe. Es werde weder Informationsmaterial an Frauen oder Passanten übergeben noch würden „blutige Schockfotos“ von abgetriebenen Embryonen gezeigt. Das Versammlungsverbot vor der Pro Familie-Beratungsstelle verletze ihr Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und ihr Recht auf Religionsfreiheit.
Das Verwaltungsgericht Karlsruhe urteilte am 12. Mai 2021, das die Verfügung der Stadt rechtmäßig sei (Az.: 2 K 5046/19; JurAgentur-Meldung vom 22. Juli 2021). Zwar werde damit die Meinungs- und Religionsfreiheit des Klägers beeinträchtigt, das allgemeine Persönlichkeitsrecht der schwangeren Frauen habe hier aber Vorrang. Gerade während der frühen Schwangerschaft und einer Konfliktsituation der betroffenen Frauen gelte ein „sehr hohes Schutzniveau für das allgemeine Persönlichkeitsrecht“. Schwangeren sei ein „Spießrutenlauf“ zur Beratungsstelle nicht zuzumuten.
Doch für einen physischen oder psychischen Spießrutenlauf gebe es hier keine Anhaltspunkte, so der VGH in seinem Urteil vom 25. August 2022. Schwangere gerieten mit der Mahnwache nicht in eine unausweichliche Situation. Dies sei erst dann der Fall, wenn die Versammlung so nahe am Pro Familia-Eingang stattfindet, dass die Versammlungsteilnehmer den Frauen direkt ins Gesicht blicken können und die Frauen den als vorwurfsvoll empfundenen Plakaten und dem Anhören der Gebete und Gesänge aus nächster Nähe ausgesetzt seien.
Dies habe die Stadt Pforzheim aber nicht dargelegt. Die Versammlung sollte vielmehr auf der gegenüberliegenden Straßenseite einer vielbefahrenen Straßen stattfinden. Zwar könne durchaus mit den Protesten ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Frauen vorliegen. Dies sei aber angesichts der Versammlungs-, Meinungs- und Religionsfreiheit der Versammlungsteilnehmer gerechtfertigt.
Ähnlich hatte am 18. März 2022 der Hessische Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Kassel zu einer „Gebetsmahnwache“ gegenüber der Beratungsstelle von Pro Familia in Frankfurt am Main entschieden (Az.: 2 B 375/22; JurAgentur-Meldung vom Entscheidungstag).
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Autor: Rechtsanwalt Sebastian Einbock