FAMILIENRECHT
Schulverweigerung kann teilweisen Sorgerechtsentzug rechtfertigen
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Sorgerecht © Symbolgrafik:© Gina Sanders - stock.adobe.com
Karlsruhe (jur). Wenn Eltern ihre Kinder nicht in die Schule schicken, müssen sie mit dem teilweisen Entzug ihres Sorgerechts rechnen. Denn die andauernde Schulverweigerung bedeutet eine Kindeswohlgefährdung, wie das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe in einem am Dienstag, 11. Oktober 2022, bekanntgegebenen Beschluss entschied (Az.: 5 UFH 3/22). Dies gilt danach auch dann, wenn die Eltern die „Wissensvermittlung“ selbst zu Hause übernehmen. Denn der Zweck der Schulpflicht reiche weit darüber hinaus.
Im Streitfall war der Sohn als ältester von vier Kindern im September 2021 eingeschult worden. Bis zum Ende des Schuljahres im Sommer 2022 hatte er die Schule jedoch noch keinen einzigen Tag besucht. Begründet hatten die Eltern dies zunächst mit den Test- und Maskenpflichten im Zuge der Corona-Pandemie. Als diese Maßnahmen aufgehoben waren, erklärten die Eltern, ihr Sohn könne sich beim „Freilernen im Homeschooling“ besser entfalten. Er habe den Wunsch, dies so fortzusetzen. Sein Bildungsstand könne jederzeit überprüft werden.
Das Familiengericht Offenburg wies die Eltern zunächst an, für den Schulbesuch ihres Sohnes zu sorgen. Weil dies nichts änderte, entzog nun das OLG Karlsruhe den Eltern „in Bezug auf die schulischen Angelegenheiten“ das Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihren Sohn und übertrug dies dem Jugendamt. „Diese Maßnahmen sind im Grundsatz geeignet, dem Missbrauch der elterlichen Sorge durch die schulverweigernden Eltern entgegenzuwirken“, heißt es in dem auch bereits schriftlich veröffentlichten Urteil vom 16. August 2022.
Zur Begründung erklärte das OLG, es bestünden „Anhaltspunkte für eine erhebliche Kindeswohlgefährdung“. Die allgemeine Schulpflicht ziele nicht nur auf die Vermittlung von Wissen und sozialen Fertigkeiten ab, die möglicherweise auch im familiären Rahmen erlernt werden könnten. Vielmehr diene die Schulpflicht auch dem staatlichen Erziehungsauftrag und den dahinterstehenden Gemeinwohlinteressen. Nur in der Schule komme es zur Begegnung mit Andersdenkenden und Minderheiten. Dies wirke der Entstehung weltanschaulich motivierter „Parallelgesellschaften“ entgegen und fördere „die Fähigkeit aller Schüler zu Toleranz und Dialog als einer Grundvoraussetzung demokratischer Willensbildungsprozesse“.
Eltern dürften diese gesetzgeberische Entscheidung nicht einfach durch ihre eigene Einschätzung ersetzen, betonte das OLG. Durch die Schulverweigerung werde „nicht nur die Entwicklung des Kindes zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit, sondern auch dessen gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft gefährdet“.
Dass der Unterricht zu Hause angeblich auch dem Willen des Kindes entsprach, spiele keine Rolle, so das OLG weiter. Eine derart weitreichende Frage wie der Schulbesuch könne „nicht dem Willen eines siebenjährigen Kindes anvertraut werden“. Denn dieses könne „die damit zusammenhängenden Auswirkungen nicht annähernd überschauen“. Auch stellte das OLG es ausdrücklich nicht infrage, „dass die Eltern das Kind unabhängig vom Schulbesuch grundsätzlich gut betreuen“. Dass sie auch für den Schulbesuch ihres Sohnes sorgen wollen, sei dagegen „nicht ersichtlich“.
Im Umgang mit einer Schulverweigerung durch die Eltern sind sich die Oberlandesgerichte nicht einig. Teilweise vertreten sie die Auffassung, bei ausreichenden Lernfortschritten und einer altersgerechten Entwicklung seien staatliche Eingriffe nicht erforderlich (so OLG Bamberg, Urteil vom 22. November 2021, Az.: 2 UF 220/20).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hatte am 10. Januar 2019 entschieden, dass der teilweise Entzug des Sorgerechts nicht gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verstößt (Az.: 18925/15; JurAgentur-Meldung vom Entscheidungstag).
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Autor: Rechtsanwalt Sebastian Einbock