ZIVILPROZESSRECHT
Sehbehinderte haben Anspruch auf Prozessunterlagen in Blindenschrift
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Karlsruhe (jur). Streiten sich Sehbehinderte vor Gericht, können sie unter Umständen die Prozessunterlagen in Blindenschrift einfordern. Ebenso wie Menschen ohne Behinderung muss ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe an dem Verfahren gewährt werden, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am Freitag, 31. Oktober 2014, veröffentlichten Beschluss (Az.: 1 BvR 856/13). Der Anspruch auf Erhalt der Prozessunterlagen in Blindenschrift besteht aber nicht, wenn der Rechtsstreit nicht besonders kompliziert ist und ihr Anwalt ihnen die Akten „gleichwertig“ vermitteln kann.
Konkret ging es um einen sehbehinderten Mann aus dem Raum Dresden. In einem zivilrechtlichen Berufungsverfahren wollte er die Prozessunterlagen vollständig zur Kenntnis nehmen. Daher beantragte er, ihm die Akten in Blindenschrift zur Verfügung zu stellen.
Nicht behinderte Menschen könnten in einem Gerichtsverfahren ohne Probleme Prozessunterlagen zur Kenntnis nehmen, so sein Einwand. Dies müsse nach dem Grundgesetz auch blinden oder sehbehinderten Menschen ermöglicht werden.
Das Landgericht Dresden lehnte den Antrag ab. Auch der Bundesgerichtshof in Karlsruhe sah für die Bereitstellung der Prozessunterlagen in Blindenschrift keine Notwendigkeit. Der Mann sei anwaltlich vertreten und könne sich alles erklären lassen. Auch sei der Streitstoff „übersichtlich“ und nicht sehr kompliziert.
Das Bundesverfassungsgericht bestätigte die BGH-Entscheidung und nahm die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Die Bereitstellung der Prozessunterlagen in Blindenschrift sei hier nicht „zwingend“ erforderlich.
Grundsätzlich könnten Sehbehinderte oder Blinde allerdings auf das im Grundgesetz verankerte Benachteiligungsverbot pochen. Menschen mit einer Behinderung müssten so gestellt werden, „dass ihnen gleichberechtigte Teilhabe wie Menschen ohne Behinderung ermöglicht wird“, betonten die Verfassungsrichter in ihrer Entscheidung vom 10. Oktober 2014.
Werde ein sehbehinderter Mensch vor Gericht von einem Rechtsanwalt vertreten, könne er bei einem „übersichtlichen“ Streitstoff aber auf diesen verwiesen werden. Gebe es jedoch Anhaltspunkte dafür, dass der Anwalt den Streitstoff nicht angemessen vermitteln kann, gehöre es zur Fürsorgepflicht des Gerichts, die Unterlagen in Blindenschrift zur Verfügung zu stellen.
Ähnlich hatte auch bereits das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel am 18. Juni 2014 entschieden (Az.: B 3 P 2/14 B; JurAgentur-Meldung vom 8. August 2014). Blinde und sehbehinderte Personen haben danach Anspruch auf „barrierefreie Zugänglichmachung von Dokumenten im gerichtlichen Verfahren“, wenn ihr Anwalt den Streitstoff nicht gut vermitteln kann. Betroffene hätten dann ein Wahlrecht, ob sie die Schriftsätze in Blindenschrift, als Hörkassette, in Großdruck oder auch in elektronischer Form erhalten wollen.
Sozialgerichte können dabei häufiger mit der Forderung nach Prozessunterlagen in Blindenschrift oder als Hörkassette konfrontiert werden. Denn dort besteht – mit Ausnahme des Bundessozialgerichts – kein Anwaltszwang.
Quelle: © www.juragentur.de - Rechtsnews für Ihre Anwaltshomepage