STRAFRECHT
Tagelange Fesselung eines Gefangenen braucht konkreten Grund
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Fesselung © Symbolgrafik:© Elnur - stock.adobe.com
Karlsruhe (jur). Ein in der Sicherungsverwahrung befindlicher Gefangener darf während eines Krankenhausaufenthaltes nicht wegen einer pauschal angenommenen Fluchtgefahr vier Tage lang gefesselt werden. Ohne Berücksichtigung der individuellen Vorgeschichte und des Gesundheitszustands des Gefangenen sowie weiterer Umstände verletzt die Zwangsmaßnahme das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am Mittwoch, 1. März 2023, veröffentlichten Beschluss (Az.: 2 BvR 1719/21).
Die Karlsruher Richter werteten damit die Verfassungsbeschwerde eines in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Werl in der Sicherungsverwahrung untergebrachten Straftäters als „offensichtlich begründet“. Wegen einer Erkrankung musste der Mann am 13. Oktober 2020 im Uniklinikum Dortmund operiert werden.
Vor und nach dem Transport in die Klinik musst er sich nackt ausziehen und sich körperlich durchsuchen lassen. Bereits auf der Fahrt zum Krankenhaus wurde er mit überkreuzten Händen gefesselt. Im Krankenhaus erfolgte eine Fesselung an den Händen oder im Wechsel zeitweise an den Füßen. Die JVA hielt die über 96 Stunden dauernde Fesselung für gerechtfertigt, da der Krankenhausaufenthalt einen Fluchtanreiz sei.
Der Gefangene meinte, dass die ununterbrochene, vier Tage lang andauernde Fesselung unverhältnismäßig gewesen sei. Sein allgemeines Persönlichkeitsrecht sei verletzt worden. Er habe wegen der Fesselung Schmerzen gehabt und habe nur schlecht schlafen können.
Das Landgericht Arnsberg und das Oberlandesgericht (OLG) Hamm hielten die Zwangsmaßnahme für gerechtfertigt. Da das Ende der Sicherungsverwahrung unklar sei, bestehe eine „gewisse Fluchtmotivation“, so das Landgericht. Auch sei die Situation im Krankenhaus hinsichtlich der Räumlichkeiten und Publikumsverkehr unvorhersehbar. So schlimm sei die Fesselung auch nicht, da der Mann ja im Wechsel auf unterschiedliche Weise an Händen und Füßen gefesselt wurde.
Doch das Bundesverfassungsgericht rügte mit Beschluss vom 19. Januar 2023 die über 96 Stunden dauernde Fesselung. Bereits der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe entschieden, dass eine Fesselung menschenrechtswidrig sei, wenn nicht die individuelle Vorgeschichte und der Gesundheitszustand des Gefangenen, dessen gefährliches Vorverhalten in der Haft und die Dauer und öffentliche Wahrnehmung der Fesselung berücksichtigt werde.
Dem schloss sich das Bundesverfassungsgericht an. Die Fesselung müsse auf das „unausweichliche Maß“ beschränkt und das Wohlergehen der gefesselten Person regelmäßig überprüft werden. Hier hätte es nahegelegen, die Fesselung zumindest phasenweise auszusetzen. Das zuvor unbeanstandete Verhalten des Gefangenen in der Haft und seine Erkrankungen seien gar nicht berücksichtigt worden. Das Landgericht müsse nun neu über die Klage entscheiden.
Quelle: © www.juragentur.de - Rechtsnews für Ihre Anwaltshomepage
Autor: Rechtsanwalt Sebastian Einbock