VERFASSUNGSRECHT
Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus muss komplett wiederholt werden
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Berlin (jur). Die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Berliner Bezirksverordnetenversammlungen im vergangenen Jahr müssen wegen „erheblicher Wahlfehler“ gänzlich wiederholt werden. Bereits die Vorbereitung zu den Wahlen stellte für sich genommen einen Wahlfehler dar, da viel zu wenige Wahlurnen in den Wahllokalen aufgestellt wurden, so dass nur 40 Prozent der Wahlberechtigten die realisierbare Möglichkeit gehabt habe, zur Urne zu gehen, urteilte am Mittwoch, 16. November 2022, der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin (Az.: VerfGH 154/21).
Mit der Erklärung über die Ungültigkeit der Wahl muss nach dem Landeswahlgesetz innerhalb von 90 Tagen die Wahl wiederholt werden. Inwieweit sich die Wahlfehler auch auf die am selben Tag durchgeführte Wahl zum Bundestag auswirkten, muss auf Bundesebene in einem eigenen gesondert geregelten Verfahren entschieden werden.
Am 26. September 2021, waren die Berlinerinnen und Berliner aufgerufen, die Bezirksverordnetenversammlungen, das Berliner Abgeordnetenhaus und die Abgeordneten und Parteien des Bundestags zu wählen. Doch die Wahlen gingen teils mit chaotischen Zuständen einher.
In mehreren Berliner Wahlkreisen war es nicht nur zu unzumutbar langen Wartezeiten vor den Wahllokalen gekommen, sondern auch zu zeitweisen Schließungen von Wahllokalen und zur Austeilung von zu wenigen oder falschen Stimmzetteln. Ein Teil der Wählenden hatten ihre Stimme erst abgeben können, als in den Medien bereits erste Hochrechnungen veröffentlicht wurden.
Die Landeswahlleitung, die Senatsverwaltung für Inneres, Digitalisierung und Sport sowie die Parteien AfD und „Die Partei“ erhoben gegen die Gültigkeit der Wahlen Einspruch.
In der mündlichen Verhandlung teilten die Verfassungsrichter in einer ersten Einschätzung die Bedenken der Einsprechenden (Az.: VerfGH 154/21; JurAgentur-Meldung vom Verhandlungstag).
Dabei ist der Verfassungsgerichtshof nun geblieben. Er erklärte für ganz Berlin die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen für ungültig.
Bereits bei der Vorbereitung der Wahlen sei es zu einem erheblichen Wahlfehler gekommen, der weitere gravierende Wahlfehler nach sich gezogen habe. So habe die Landeswahlleitung prognostiziert, dass die Wahlhandlung eines jeden Wählers drei Minuten dauere. Pro Wahllokal seien aber durchschnittlich nur 2,36 Wahlkabinen aufgestellt worden. Bei einer Wahlzeit von 8 bis 18 Uhr könnten dann aber nur 472 Personen in Präsenz wählen.
Angesichts von insgesamt sechs abzugebenden Stimmen auf fünf Stimmzetteln dauere die Stimmabgabe aber wohl eher fünf Minuten pro Wähler, so dass angesichts der begrenzten Zahl von Wahlkabinen nur 283 Wahlberechtigte ihre Stimmen hätten abgeben können. Tatsächlich seien aber in jedem Wahllokal durchschnittlich 1.085 Personen erschienen. Eine ordnungsgemäße Wahl sei damit nicht mehr gewährleistet gewesen. Es hätten damit „nur 40 Prozent der Wahlberechtigten die realisierbare Möglichkeit gehabt, zur Urne zu gehen“, betonten die Verfassungsrichter. Bei einer realistischeren Zeitprognose für die Wahldauer eines jeden Stimmberechtigten wären es sogar nur 26 Prozent gewesen.
Mindestens fünf von zwölf Bezirken hätten zudem nicht alle benötigten Stimmzettel erhalten. Die Nachbelieferung sei viel zu spät erfolgt, so dass einige Wahllokale zwischenzeitlich geschlossen wurden. Für die Wählerinnen und Wähler sei es nicht erkennbar gewesen, wann das Wahllokal wieder öffnet. Teils seien die Wahllokale dann über 18 Uhr hinaus geöffnet gewesen, obwohl zu diesem Zeitpunkt erste Wahlprognosen in den Medien verbreitet wurden.
Damit konnten „nicht nur einzelne, sondern tausende Wahlberechtigte am Wahltag in Berlin ihre Stimme nicht, nicht wirksam, nur unter unzumutbaren Bedingungen oder nicht unbeeinflusst abgeben“, urteilten die Verfassungsrichter. Dies verletze die Grundsätze der Freiheit, der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl.
Die Wahlfehler seien auch so gravierend, dass sich diese auf die Mandatsverteilung auswirken könnten. Zwar gebe es ein „Bestandsinteresse“ eines einmal gewählten Parlaments. Das Korrekturinteresse und damit auch die rechtmäßige Zusammensetzung des Parlaments sei hier aber höher zu bewerten. Es müsse zudem berücksichtigt werden, dass es sich um einen einmaligen Vorgang in der Geschichte der Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland handele, so die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs Ludgera Selting.
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Autor: Rechtsanwalt Sebastian Einbock