STAATSRECHT
Zuwanderungsgesetz mit Art. 78 GG unvereinbar und daher nichtig
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Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat heute sein Urteil in
dem Normenkontrollverfahren über das Zuwanderungsgesetz verkündet und
festgestellt, dass das angegriffene Gesetz mit Art. 78 GG unvereinbar
und daher nichtig ist. Damit tritt das Gesetz nicht am 1. Januar 2003
in Kraft. Von der Nichtigkeitsfolge werden auch die Regelungen des
Zuwanderungsgesetzes erfasst, die am 26. Juni und. 1. Juli 2002 wirksam
geworden sind.
Der Hintergrund des Verfahrens ist der Pressemitteilung Nr. 84/2002 vom
1. Oktober 2002 zu entnehmen.
Der Normenkontrollantrag ist zulässig und nach Auffassung der
Senatsmehrheit auch begründet.
1. Zur Begründung ihrer Entscheidung führt die Senatsmehrheit aus:
Das Zuwanderungsgesetz verstößt gegen Art. 78 GG und ist daher nichtig.
Es ist wegen der in ihm enthaltenen Bestimmungen über das
Verwaltungsverfahren ein so genanntes zustimmungspflichtiges Gesetz,
das jedoch im Bundesrat nicht die erforderliche Mehrheit der Stimmen
erhalten hat.
An einer Zustimmung des Landes Brandenburg zum Zuwanderungsgesetz fehlt
es, weil bei Aufruf des Landes im Bundesrat die Stimmen nicht
einheitlich abgegeben wurden. Nach dem Grundgesetz wirken die Länder
bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und den Angelegenheiten
der Europäischen Union mit. Diese Mitwirkung erfolgt nicht unmittelbar,
sondern vermittelt durch die aus dem Kreis der Landesregierungen
stammenden Mitglieder des Bundesrats. Die Länder werden jeweils durch
ihre anwesenden Bundesratsmitglieder vertreten. Dabei geht das
Grundgesetz von der einheitlichen Stimmabgabe aus und respektiert die
Praxis der landesautonom bestimmten Stimmführer, ohne seinerseits mit
Geboten und Festlegungen in den Verfassungsraum des Landes
überzugreifen. Der Abgabe der Stimmen durch einen Stimmführer kann
jedoch jederzeit durch ein anderes Bundesratsmitglied desselben Landes
widersprochen werden. Damit entfallen die Voraussetzungen der
Stimmführerschaft. Hier hat das im Abstimmungsverfahren aufgerufene
Land Brandenburg seine vier Stimmen nicht einheitlich abgegeben, was
der Bundesratspräsident zutreffend unmittelbar nach der Stimmabgabe
förmlich festgestellt hat.
Die Uneinheitlichkeit der Stimmenabgabe Brandenburgs ist durch den
weiteren Abstimmungsverlauf nicht beseitigt worden. Der
Bundesratspräsident durfte nach seiner Feststellung, dass das Land
Brandenburg uneinheitlich abgestimmt habe, nicht das Bundesratsmitglied
Dr. Stolpe fragen, wie das Land Brandenburg abstimme. Der die
Abstimmung leitende Bundesratspräsident ist zwar grundsätzlich
berechtigt, bei Unklarheiten im Abstimmungsverlauf mit geeigneten
Maßnahmen eine Klärung herbeizuführen und auf eine wirksame Abstimmung
des Landes hinzuwirken. Als unparteiischer Sitzungsleiter hat er den
Willen des Bundesrats im Gesetzgebungsverfahren klar festzustellen.
Besteht jedoch ein einheitlicher Landeswille erkennbar nicht und ist
nach den gesamten Umständen nicht zu erwarten, dass ein solcher noch
während der Abstimmung zustande kommen werde, entfällt das Recht zur
Nachfrage. Hier lag der Wille des Landes Brandenburg zur
uneinheitlichen Abstimmung klar zutage. Es bestand Klarheit über den
Dissens. Ein einheitlicher politischer Landeswille war von den
Beteiligten weder vor der Bundesratssitzung festgelegt noch wurde er
von ihnen im Verlauf der Sitzung erwartet. Dies belegen ein Teil der
Redebeiträge in der Plenardebatte und die sorgsame rechtliche
Vorbereitung durch die Beteiligten. In diesem atypischen Fall war der
Sitzungsleiter verpflichtet, die Uneinheitlichkeit der Stimmabgabe zu
protokollieren. Zu einer Lenkung des Abstimmungsverhaltens des Landes
Brandenburg mittels anschließender Nachfrage war der
Bundesratspräsident unter den gegebenen Umständen nicht befugt.
Angesichts dieser Ausgangslage ist der Fall der hier zu beurteilenden
774. Bundesratssitzung auch nicht mit der 10. Sitzung des Bundesrats
vom 9. Dezember 1949 vergleichbar. Diese war verschiedentlich als
Präzedenzfall angeführt worden.
Da kein Klärungsbedarf bestand, wäre die gezielte Rückfrage des
Bundesratspräsidenten nur an den Ministerpräsidenten eines Landes
lediglich zu rechtfertigen, wenn ein Ministerpräsident sich in der
Abstimmung über die Stimmenabgabe durch die anderen
Bundesratsmitglieder des Landes hätte hinwegsetzen dürfen. Dies ist
jedoch nicht der Fall. Der Ministerpräsident kann nämlich weder ein
Weisungsrecht im Bundesrat beanspruchen noch stand ein drohender
Verstoß gegen die Bundesverfassung in Rede.
Auch wenn ein Nachfragerecht des Bundesratspräsidenten grundsätzlich
unterstellt wird, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Die Nachfrage
hätte nur in der gebotenen neutralen Form erfolgen dürfen. Dazu
bestanden zwei Möglichkeiten: Entweder hätte das Land Brandenburg in
der laufenden Abstimmung ein zweites Mal aufgerufen werden können.
Damit wäre die Frage, wie das Land abstimme, an alle anwesenden
Bundesratsmitglieder gerichtet worden. Oder der Bundesratspräsident
hätte -wie geschehen- ein Bundesratsmitglied des Landes direkt fragen
dürfen, dann aber hätte nach dem "Ja" des Ministerpräsidenten zur
Vermeidung von Unklarheit auch Minister Schönbohm gefragt werden
müssen, ob er bei seinem "Nein" bleibe. Dem Schweigen ohne vorangehende
Frage kommt kein rechtlicher Erklärungswert in einer Abstimmung zu; es
besteht keine Pflicht zum ungefragten Zwischenruf.
Da es an einer Zustimmung des Landes Brandenburg fehlte, entfaltete
auch die Feststellung des Bundesratspräsidenten nach Aufruf der
weiteren Länder, der Bundesrat habe dem Gesetz zugestimmt, keine
Rechtswirkung.
2. Die Richterinnen Osterloh und Lübbe-Wolff haben dem Urteil eine
abweichende Meinung beigefügt.
Sie stimmen der Senatsmehrheit darin zu, dass bei der Abstimmung über
das Zuwanderungsgesetz das Land Brandenburg zunächst nicht einheitlich
gestimmt hat. Ihrer Auffassung nach war das Land Brandenburg jedoch
berechtigt, das im ersten Durchgang gezeigte Abstimmungsverhalten zu
korrigieren. Der Bundesratspräsident durfte ihm dazu durch Nachfrage
Gelegenheit geben. Die Annahme, dass der Bundesratspräsident die
uneinheitliche Stimmabgabe ohne Nachfrage hätte registrieren müssen,
weil keine Unklarheit vorgelegen habe, findet - so die abweichende
Meinung der beiden Richterinnen - im geltenden Verfassungs- und
Geschäftsordnungsrecht keine Grundlage. Die Abgrenzung zwischen klaren
und unklaren Fällen, auf die die Senatsmehrheit abstellt, ist
ihrerseits alles andere als klar und daher als verfassungsrechtlicher
Maßstab für das Verhalten des Bundesratspräsidenten ungeeignet; das
zeigt gerade der vorliegende Fall. Selbst wenn die Nachfrage unzulässig
gewesen wäre, hätte dies nicht die im Urteil angenommene Konsequenz,
dass das Land Brandenburg sein Korrekturrecht nicht mehr wirksam
ausüben konnte. Die Auffassung der Senatsmehrheit läuft darauf hinaus,
dass der Bundesratspräsident das Recht eines Landes zur Korrektur
seiner Stimmabgabe für den konkreten Fall beseitigt, wenn er dem Land
unveranlasst die Gelegenheit dazu anbietet. Das ist ein
staatsrechtliches Unikat.
Die Richterinnen Osterloh und Lübbe-Wolff gehen davon aus, dass der
Bundesratspräsident mit seiner Nachfrage einen neuen
Abstimmungsdurchgang eröffnet hat. In diesem zweiten Durchgang kam es
nicht mehr auf die zuvor uneinheitlich abgegebenen Stimmen an, sondern
darauf, ob das Land nunmehr einheitlich abstimmen würde. Das ist
geschehen. Der Minister Schönbohm hat der Ja-Stimme des
Ministerpräsidenten Stolpe lediglich die Worte "Sie kennen meine
Auffassung, Herr Präsident" entgegengesetzt. Auf die mit diesen Worten
bekräftigte Auffassung kam es aber nicht an. Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG
verlangt nicht, dass die Vertreter eines Landes im Bundesrat
einheitlicher Auffassung sind. Das Grundgesetz stellt ausschließlich
auf die Einheitlichkeit der Stimmabgabe ab. Eben deshalb ist es
notwendig, zwischen Stimmabgaben und Auffassungskundgaben deutlich zu
unterscheiden. Eine Stimmabgabe des Bundesratsmitglieds Schönbohm, die
das Zustandekommen des Zuwanderungsgesetzes hätte verhindern können,
hat im entscheidenden zweiten Durchgang nicht mehr stattgefunden.
BVerfG, Urteil vom 18. Dezember 2002 - Az. 2 BvF 1/02 -