FAMILIENRECHT
Gericht muss Warnungen vor Kindesmisshandlung berücksichtigen
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Karlsruhe (jur). Gerichte dürfen sich nicht über warnende Stimmen von psychologischen Gutachtern und Jugendamt über drohende Kindesmisshandlungen einfach ohne nähere Begründung hinwegsetzen. Ordnet ein Gericht trotz entgegenstehender Einschätzung von Gutachtern und Behörden die Rückkehr eines in einer Pflegefamilie untergebrachten Kindes zu seinen leiblichen Eltern an, verletzt es das Recht des Kindes auf Schutz durch den Staat, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am Dienstag, 28. Februar 2017, veröffentlichten Beschluss (Az.: 1 BvR 2569/16).
Im konkreten Fall ging es um ein heute zweieinhalbjähriges Mädchen. Der Kinderarzt stellte bei dem frühgeborenen Kind 2015 bei einer Routineuntersuchung Blutergüsse fest. Im Krankenhaus wurden zudem neun Rippenbrüche diagnostiziert, die offenbar daher stammten, dass jemand das Kind besonders stark mit seinen Händen umfasst hatte. Die Eltern konnten sich die Verletzung nicht erklären und beschuldigten später das Klinikpersonal, für die Verletzungen verantwortlich zu sein.
Gutachter warnten wegen Kindeswohlgefährdung
Gutachter und Jugendamt kamen zu dem Ergebnis, dass das Kind bei den Eltern wegen des Verdachts auf Kindesmisshandlung erheblich gefährdet sei. Der Vater hatte zudem ein Alkoholproblem, die an Epilepsie erkrankte Mutter war in ihrer Kindheit selbst Opfer von Kindesmisshandlung.
Das Kind kam schließlich in eine Pflegefamilie. Die leiblichen Eltern zogen vor Gericht und verlangten ihr Kind zurück.
Eine psychologische Gutachterin warnte davor. Den Eltern fehle es nicht nur an Empathie und Erziehungsfähigkeit, bei einer Rückkehr sei das Kind „unmittelbar gefährdet“. Es bestehe die Gefahr „plötzlicher Übergriffigkeit“. Auch das Jugendamt und die vom Familiengericht eingesetzte Verfahrensbeiständin – quasi eine „Anwältin des Kindes" – hatten erhebliche Bedenken, das Kind aus der Pflegefamilie herauszunehmen.
Das Oberlandesgericht (OLG) Köln hörte die Eltern an und setzte sich ohne nähere Begründung über die Gutachten und Bedenken hinweg. Es bestünden zwar Gefährdungen des Kindes, diese könnten jedoch auch mit Familienhilfen in den Griff bekommen werden. Konkrete Anhaltspunkte für wiederholt drohende elterliche Gewalt „wegen fehlender emotionaler Sperren des Vaters oder der Mutter“ gebe es nicht.
Kind hat ein Recht auf den Schutz des Staates
Mit dieser Entscheidung hat aber das OLG das Recht des Kindes verletzt, vom Staat geschützt zu werden, so das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 3. Februar 2017. Grundsätzlich hätten zwar die Eltern ein Recht auf Erziehung, der Staat müsse jedoch einspringen, wenn das Kindeswohl gefährdet sei. Dies könne dahingehen, dass das Kind sogar gänzlich in einer Pflegefamilie untergebracht wird.
Will ein Gericht ein in einer Pflegefamilie untergebrachtes Kind wieder zu den leiblichen Eltern zurückführen, müsse es zwar nicht zwingend den Warnungen von Gutachtern, Jugendamt oder Verfahrensbeistand folgen. Das Gericht müsse dann aber detailliert begründen, warum das Kindeswohl nicht gefährdet sei. Dies sei hier nicht geschehen. „Insbesondere hat es nicht selbst ein Sachverständigengutachten eingeholt, auf das es seine gegenläufige Einschätzung stützen könnte“, rügte das Bundesverfassungsgericht. Dabei hätten die nicht aufgearbeitete Misshandlung des Kindes sowie die eingeschränkte Erziehungsfähigkeit der Eltern in Bezug auf Empathie und Emotionalität Anlass für eine eingehende Prüfung gegeben.
Eine Rückführung zu den leiblichen Eltern verlange dabei ein „hohes Maß an Prognosesicherheit“, dass dem Kind kein Schaden droht. Zudem dürften auch mögliche bestehende Bindungen des Kindes zu den Pflegeeltern nicht – wie hier geschehen – außer Acht gelassen werden. Denn die Herausnahme aus dem sozialen Umfeld könne zu einer nicht hinnehmbaren Schädigung des Kindes führen.
Das OLG muss nun neu über das Verfahren entscheiden.
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