ARBEITSRECHT
Tarifeinheitsgesetz nicht menschenrechtswidrig
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Straßburg (jur). Der Marburger Bund, die Gewerkschaft Deutscher Lokführer und der Beamtenbund sind beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit ihren Beschwerden gegen das deutsche Tarifeinheitsgesetz gescheitert. Die Gewerkschaften werden mit dem im Juli 2015 in Kraft getretenen Gesetz nicht in ihrem in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Recht auf Vereinigungsfreiheit verletzt, urteilten am Dienstag, 5. Juli 2022, mehrheitlich die Straßburger Richter (Az.: 815/18 und weitere).
Mit dem Tarifeinheitsgesetz wollte der Gesetzgeber die Anwendung mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb vermeiden. Im Zweifel sollte der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gelten, die in dem Betrieb die meisten Mitglieder hat.
Zuvor war es dagegen möglich, dass in einem Betrieb für unterschiedliche Berufsgruppen auch unterschiedliche Tarifverträge galten. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt hatte am 7. Juli 2010 diese Tarifvielfalt auch für rechtmäßig gehalten (Az.: 4 AZR 534/08; JurAgentur-Archivmeldung).
Für Arbeitgeber stellte sich daraufhin das Problem, dass sie wegen Tarifverhandlungen mit unterschiedlichen Gewerkschaften vermehrt von Streiks betroffen waren. So konnte in der Vergangenheit etwa die kleine Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) die Deutsche Bahn mit Streiks lahmlegen, obwohl das Unternehmen bereits mit der konkurrierenden Gewerkschaft Verdi einen Tarifvertrag geschlossen hatte.
Das Tarifeinheitsgesetz sollte dies künftig verhindern. Insbesondere kleine Spartengewerkschaften rügten jedoch eine unzulässige Beschränkung ihres Grundrechts auf Koalitionsfreiheit.
Gegen das Tarifeinheitsgesetz erhoben insgesamt elf Gewerkschaften Verfassungsbeschwerde, darunter die Pilotenvereinigung Cockpit, der Marburger Bund, die GDL und die Beamtengewerkschaft dbb.
Doch das Bundesverfassungsgericht urteilte am 11. Juli 2017, dass das Tarifeinheitsgesetz weitgehend verfassungskonform sei (Az.: 1 BvR 1571/15 und weitere; JurAgentur-Meldung vom Urteilstag). Der Gesetzgeber habe einen weiten Gestaltungsspielraum, die Bedingungen für die Aushandlung von Tarifverträgen festzulegen. Die Koalitionsfreiheit vermittele „kein Recht auf absolute tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen“.
Ziel des Gesetzes sei es, dass die Gewerkschaften untereinander mehr kooperieren sollen, bevor es zu Tarifverhandlungen kommt, so weiter das Bundesverfassungsgericht 2017. Der Gesetzgeber dürfe auch die Rahmenbedingungen dafür schaffen, wie die Tarifvertragsparteien einen fairen Ausgleich bei Tarifverhandlungen erzielen können. Allerdings verpflichtete das Gericht den Gesetzgeber auch zu Nachbesserungen. Die Interessen einzelner Berufsgruppen dürften nicht übergangen werden.
Gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts legten der Beamtenbund, der Marburger Bund und die GDL sowie sechs GDL-Gewerkschaftsmitglieder Beschwerde beim EGMR ein. Das Recht auf Gründung und Beitritt zu Gewerkschaften sowie ihr Recht auf Tarifverhandlungen würden verletzt. Wegen des Gesetzes könnten sie keine Tarifverträge in Unternehmen mehr schließen, in denen eine andere Gewerkschaft mehr Mitglieder hat.
Doch es gibt kein „Recht“ auf einen Tarifvertrag, urteilte der EGMR. Ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention liege nicht vor. Der Staat habe mit dem Tarifeinheitsgesetz seinen bestehenden Spielraum nicht überschritten. Die Gewerkschaften könnten immer noch bei den Arbeitgebern vorstellig und von diesen angehört werden. Auch sei damit das Recht auf Tarifverhandlungen und Streiks nicht ausgeschlossen.
Das Tarifeinheitsgesetz sollte zudem das „gerechte und ordnungsgemäße Funktionieren des Tarifverhandlungssystems gewährleisten“, urteilte der EGMR. So sollte insbesondere verhindert werden, dass Gewerkschaften, die Arbeitnehmer in Schlüsselpositionen vertreten, Tarifverträge zum Nachteil anderer Arbeitnehmer aushandeln.
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Autor: Rechtsanwalt Sebastian Einbock