VERFASSUNGSRECHT
Rechtliches Gehör auch bei über 90 Zeichen langen Dateinamen
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Karlsruhe (jur). Der verfassungsrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör darf nicht an einem über 90 Zeichen langen Dateinamen scheitern. Versendet ein Anwalt fristgemäß einen Schriftsatz mitsamt einem Dateianhang und besonders langem Dateinamen über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) an ein Gericht, muss dies regelmäßig zur Kenntnis genommen und bearbeitet werden, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am Mittwoch, 5. April 2023, veröffentlichten Beschluss (Az.: 1 BvR 1881/21). Auch wenn das EDV-System den langen Dateinamen nicht weiterverarbeiten kann, dürfe dies nicht dazu führen, dass der Schriftsatz nicht berücksichtigt werde.
Im Streit ging es um eine Volljährigenadoption. Die Eltern der Beschwerdeführerin wollten den volljährigen Sohn einer langjährigen Freundin als Kind annehmen. Damit war die leibliche Tochter der Eltern nicht einverstanden und widersprach der beantragten Adoption. Diese diene nur dazu, ihren Erb- und Pflichtteil zu kürzen. Nach dem Gesetz dürfe die Annahme Volljähriger nicht ausgesprochen werden, wenn „ihr überwiegende Interessen der Kinder des Annehmenden entgegenstehen“, so die Tochter. Bei einer Adoption, die in erster Linie wirtschaftlich motiviert sei, fehle es an der „sittlichen Rechtfertigung“.
Der Anwalt der Beschwerdeführerin sandte über das beA einen Schriftsatz and das zuständige Amtsgericht Tostedt im Landkreis Harburg. Darin wurde aufgeführt, warum kein Näheverhältnis zwischen den Eltern und dem Anzunehmenden bestehe. Der Schriftsatz beinhaltete als Anlage einen Handelsregisterauszug in Form einer pdf-Datei. Die Datei, die vom Registerportal des Bundes und der Länder heruntergeladen wurde, hatte einen über 90 Zeichen langen Dateinamen.
Als das Schriftstück beim Amtsgericht am 2. Juli 2021 einging, informierte der zentrale IT-Betrieb des Landes Niedersachsen das Gericht darüber, dass das EDV-System solch einen langen Dateinamen nicht verarbeiten könne. Es solle doch um eine Datei mit kürzerem Namen bitten.
Das Gericht sprach allerdings am 12. Juli 2023 erst einmal die Adoption aus. Der Schriftsatz der Beschwerdeführerin wurde wegen des Anhangs mit dem langen Dateinamen nicht berücksichtigt. Erst am 19. Juli 2023 und damit nach Ablauf der vom Amtsgericht festgelegten Stellungnahmefrist erhielt der Anwalt per E-Mail die Information, dass der Schriftsatz wegen des langen Dateinamens nicht verarbeitet werden konnte.
Damit wurde die Tochter in ihrem Recht auf rechtliches Gehör verletzt, entschied das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 16. Februar 2023. Das Grundgesetz verpflichte ein Gericht, „die Ausführungen der an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen“. Bei der Einreichung einer elektronischen Nachricht gebe es zwar festgelegte Obergrenzen für die Anzahl elektronischer Dokumente und für deren Gesamtvolumen, nicht aber für die Zeichenanzahl von Dateinamen.
Hier habe sich der Inhalt des Dokuments einwandfrei feststellen lassen. Es sei weder verschlüsselt noch mit Viren befallen gewesen. Zu Unrecht habe das Amtsgericht daher den Schriftsatz nicht berücksichtigt. Dieses müsse nun erneut über die Ausführungen der Beschwerdeführerin befinden und dann gegebenenfalls den Adoptionsbeschluss wieder aufheben. Bis zu dieser Entscheidung bleiben die Wirkungen des Adoptionsbeschlusses aber bestehen, so die Verfassungsrichter.
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Autor: Rechtsanwalt Sebastian Einbock