SOZIALRECHT
Sozialgericht erleichtert Opferentschädigung nach Kindesmissbrauch
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Kassel (jur). Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel hat erneut Menschen den Zugang zu einer Opferentschädigung erleichtert, die als Kind Opfer von Missbrauch und Vergewaltigung wurden. Nach dem am Mittwoch, 18. November 2015, verkündeten Urteil muss der genaue Tathergang nicht im Einzelnen geklärt sein; vielmehr reicht es aus, wenn die Tat als solche „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht“ (Az.: B 9 V 1/14 R).
Damit gaben die obersten Sozialrichter einer aus Brandenburg stammenden Frau recht. Sie war in der früheren DDR von ihrem eigenen Vater regelmäßig missbraucht worden, erstmals als Vierjährige 1960. Als Jugendliche wurde sie mit zwölf und 14 Jahren zumindest zweimal vergewaltigt. Im Alter von 20 Jahren wurde sie von ihrem Vater schwanger; das Kind starb vier Wochen nach der Geburt.
Nach der Wiedervereinigung zog die Klägerin 1989 nach Bayern und wurde 1994 in Garching von einem Unbekannten erneut vergewaltigt. Dadurch brachen auch die alten Traumatisierungen wieder auf. Die Klägerin ist seitdem erwerbsunfähig.
Für die Opferentschädigung wird ein „Grad der Schädigung“ (GdS) festgesetzt; dieser entspricht im Wesentlichen der „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ bei Erwerbsminderungsrenten. Dabei werden Schädigungen aus mehreren Vorfällen meist nicht voll addiert.
Nach Gutachten betrug hier der GdS wegen des Missbrauchs zur DDR-Zeit 70, durch die Vergewaltigung in Bayern 30. Insgesamt liegt der Schädigungsgrad bei 80.
Entsprechend bezahlt Bayern bereits eine Opferentschädigungsrente nach einem GdS von 30. In Härtefällen können laut Opferentschädigungsgesetz auch zurückliegende Taten vor der Wiedervereinigung in der DDR entschädigt werden. Brandenburg lehnte dies aber ab. Die Angaben der Frau seien viel zu widersprüchlich und der Hergang der Taten daher viel zu unklar, argumentierte die Versorgungsbehörde.
Das BSG ließ diesen Einwand nicht gelten. Für eine Opferentschädigung müsse „die konkrete Ausgestaltung des Angriffs nicht im Detail feststehen“. Es reiche vielmehr aus, „wenn die Tat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht“, und wenn diese Tat Ursache dauerhafter – hier psychischer – Gesundheitsschäden ist.
Im konkreten Fall seien diese Anforderungen erfüllt. Trotz bestehender Widersprüche hätten vier Gutachter die Aussagen der Frau für insgesamt glaubhaft gehalten. Die Taten seien auf die Jahre 1960 bis 1979 auch ausreichend zeitlich eingegrenzt.
Der Klägerin stehe daher nicht nur wegen der Vergewaltigung in Bayern, sondern auch wegen des Missbrauchs und der Vergewaltigungen durch ihren Vater in der DDR eine Opferentschädigung zu, urteilte das BSG.
Konkret soll nun Bayern den Gesamt-GdS festsetzen. Wie bei der Erwerbsminderung könne dabei auch eine „besondere berufliche Betroffenheit“, hier die Erwerbsunfähigkeit, mit einem Zuschlag berücksichtigt werden, betonten die Kasseler Richter. Brandenburg soll sich aber anteilig an den Rentenzahlungen beteiligen.
Für neue Fälle haben sich die Länder inzwischen geeinigt, auf solche Ausgleichszahlungen von anderen Bundesländern zu verzichten.
Das BSG hat mit seinem neuen Urteil seine bisherige Rechtsprechung konkretisiert. Bereits am 17. April 2013 hatte es entschieden, dass für eine Opferentschädigung wegen Missbrauchs im Kindesalter die Taten nicht wie im Strafrecht „bewiesen“ werden müssen; es reicht vielmehr aus, wenn das Opfer die Übergriffe glaubhaft machen kann (Az.: B 9 V 1/12 R, JurAgentur-Meldung vom Urteilstag). Weiter hat das BSG bereits entschieden, dass sexueller Missbrauch eines Kindes auch ohne Gewalteinwirkung durch den Täter als entschädigungsfähiger „tätlicher Angriff“ gilt (Urteile vom 18. Oktober 1995, 9 RVg 4/93 und 9 RVg 7/93).
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