STAATSRECHT
Der Fall Pofalla - Immunität der Bundestagsabgeordneten nach Art. 46 Abs. 2 bis 4 GG
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Mit Beschluss vom 24. Januar 2001 hat der Zweite Senat des BVerfG einen
Antrag der CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages verworfen. Diese
wollte festgestellt wissen, dass die Bundesregierung durch ihre
Weigerung, ein Organstreitverfahren vor dem BVerfG gegen das Land
Nordrhein-Westfalen wegen der Anträge auf Aufhebung der Immunität des
Abgeordneten Pofalla durchzuführen, die Rechte des Bundestages und der
CDU/CSU-Fraktion verletzt.
I.
1. Zur Vorgeschichte
Die Staatsanwaltschaft Kleve leitete am 30. April 2000 ein
Ermittlungsverfahren gegen den Bundestagsabgeordneten Pofalla wegen des
Verdachts der Steuerhinterziehung ein. Generalstaatsanwalt und
Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hatten dies zuvor
gebilligt. Der Bundestag machte von seinem Recht aus Art. 46 Abs. 4 GG,
die Aussetzung des Verfahrens zu verlangen, keinen Gebrauch. Am 4. Mai
2000 ordnete das Amtsgericht Kleve die von der Staatsanwaltschaft
beantragten Durchsuchungen und Beschlagnahmen an. Am 11. Mai 2000
beschloss der Bundestag auf Empfehlung des zuständigen Ausschusses und
ohne Beratung, den Vollzug der gerichtlichen Durchsuchungsmaßnahmen zu
genehmigen. Daraufhin durchsuchten Polizei und Staatsanwaltschaft die
Wohn- und Geschäftsräume des Abgeordneten Pofalla und seiner früheren
Ehefrau sowie verschiedene Kreditinstitute noch am gleichen Tag. Dies
geschah drei Tage vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Der
Abgeordnete Pofalla war designierter Justizminister im
"Schattenkabinett" des CDU-Spitzenkandidaten. Die Notwendigkeit der
Durchsuchungsmaßnahmen zu diesem Zeitpunkt begründete die
Staatsanwaltschaft im Antragsverfahren vor dem Deutschen Bundestag mit
der drohenden Verjährung.
Am 11. August stellte das Landgericht Kleve auf Antrag des Abgeordneten
fest, dass die Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse des
Amtsgerichts rechtswidrig waren. Die Staatsanwaltschaft stellte das
Verfahren am 14. August mangels Tatverdachts ein. Am 19. September
entschuldigte sich der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen
beim Abgeordneten für das rechtswidrige Vorgehen seiner Behörden. Der
zuständige Generalstaatsanwalt wurde in den einstweiligen Ruhestand
versetzt.
2. Zur Rechtslage
Die Immunität der Bundestagsabgeordneten ist in Art. 46 Abs. 2 bis 4 GG
festgelegt. Der Bundestag hat in seiner Geschäftsordnung Grundsätze in
Immunitätsangelegenheiten geregelt. Ziffer 2a dieser Grundsätze lautet:
Hat der Bundestag für die Dauer einer Wahlperiode die Durchführung von
Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder des Bundestages wegen Straftaten
genehmigt, so ist vor der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens dem
Präsidenten des Bundestages und, soweit nicht Gründe der
Wahrheitsfindung entgegenstehen, dem betroffenen Mitglied des
Bundestages Mitteilung zu machen; unterbleibt eine Mitteilung an das
Mitglied des Bundestages, so ist der Präsident auch hiervon unter Angabe
der Gründe zu unterrichten. Das Recht des Bundestages, die Aussetzung
des Verfahrens zu verlangen (Art. 46 Abs. 4 des GG), bleibt unberührt.
Die entsprechende Genehmigung zur Durchführung von Ermittlungsverfahren
hat der Bundestag zu Beginn der Legislaturperiode erteilt. Sie umfasst
nicht den Vollzug von Durchsuchungen oder Beschlagnahmen; hierfür ist
eine Genehmigung im Einzelfall erforderlich.
3. Der Antrag
Die Antragstellerin hält die Bundesregierung verfassungsrechtlich für
verpflichtet, einen Bund-Länder-Streit gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG
gegen das Land Nordrhein-Westfalen zu beantragen. Ein
verfassungsrechtliches Rechtsverhältnis zwischen beiden ergebe sich aus
Art. 46 Abs. 2 bis 4 GG i.V.m. dem Grundsatz der Bundestreue. Aus der
über Art. 46 Abs. 2 bis 4 GG dem Bundestag zustehenden Kompetenz folgten
Rechte und Pflichten des Bundes im Bund-Länder-Streit. Zur Wahrung
dieser verfassungsrechtlich begründeten Rechte sei der Bund auf die
angemessene Kooperation mit den für die Rechtspflege zuständigen Ländern
angewiesen. Diese hätten im Verfahren zur Aufhebung der Immunität eine
sachgemäße Vorarbeit zu leisten. So sei gewährleistet, dass nur Anträge
gestellt würden, die zur Wahrnehmung der Rechte des Bundestages aus Art.
46 Abs. 2 bis 4 GG führten. Das "Verhalten aller beteiligten
Einrichtungen des Landes Nordrhein-Westfalen, das zu den Anträgen der
Staatsanwaltschaft in Kleve vom 17. April und 5. Mai 2000 geführt habe"
verletze diese Verpflichtung. Durch das Unterlassen der Bundesregierung,
einen Antrag im Bund-Länder-Streit zu stellen, seien die Rechte des
Bundestages und der Antragstellerin aus der Verfassungsorgantreue und
dem Immunitätsrecht verletzt worden. Nur wenn die Bundesregierung den
Antrag stelle, werde verfassungsgerichtlich die Frage geklärt, was die
Länder in Immunitätsangelegenheiten dem Bund verfassungsrechtlich
schuldeten und inwiefern das Land Nordrhein-Westfalen dem genüge getan
habe.
II.
Das BVerfG hat den Antrag als unzulässig verworfen und führt zur
Begründung im Wesentlichen aus:
Als Angriffsgegenstand im Organstreitverfahren - in dem die Fraktionen
des Deutschen Bundestages parteifähig sind - kommen nur Maßnahmen oder
Unterlassungen in Betracht, die rechtserheblich sind. Rechtserheblich
ist das Unterlassen einer Maßnahme nur dann, wenn eine
verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Vornahme der unterlassenen
Maßnahme nicht ausgeschlossen werden kann. Fehlt es hieran, ist der
Organstreit mangels eines zulässigen Angriffsgegenstandes unzulässig.
So liegt der Fall hier. Zwischen der Bundesregierung und dem Land
Nordrhein-Westfalen bestehen keine konkreten Meinungsverschiedenheiten
über grundgesetzliche Rechte und Pflichten. Bei
Meinungsverschiedenheiten im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG muss es
sich um verfassungsrechtliche Streitigkeiten handeln. Solche streitigen
Rechte oder Pflichten aus einem materiellen Verfassungsrechtsverhältnis
zwischen dem Bund und dem Land Nordrhein-Westfalen lassen sich weder
unmittelbar aus Art. 46 Abs. 2 bis 4 GG noch aus dem Immunitätsrecht in
Verbindung mit dem Grundsatz der Bundestreue ableiten.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Bundestag die diesem vom
Grundgesetz eingeräumte Genehmigungsbefugnis in
Immunitätsangelegenheiten nicht streitig gemacht. Es hat das Verfahren
entsprechend den Grundsätzen in Immunitätsangelegenheiten beachtet, den
Bundestag pflichtgemäß von dem geplanten Ermittlungsverfahren
unterrichtet und eine Genehmigung für die beabsichtigte Durchsuchung und
Beschlagnahme eingeholt. Ein rechtswidrig eingeleitetes
Ermittlungsverfahren sowie ein rechtswidrig gestellter Antrag stellen
den im Grundgesetz garantierten Genehmigungsvorbehalt des Bundestages in
Immunitätsangelegenheiten grundsätzlich nicht in Frage. Die Verletzung
des Straf- oder Strafverfahrensrechts spielt im Bund-Länder-Streit keine
Rolle, weil es in diesem Verfahren nur darum geht, in der Verfassung
festgelegte Zuständigkeiten und Kompetenzen gegeneinander abzugrenzen.
Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn das Land sachfremd und
willkürlich den Bundestag irreführt, um die Genehmigung zum Vollzug der
gerichtlichen Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse zu erwirken.
Ein solcher Missbrauch wird allerdings nicht bereits dadurch belegt,
dass die staatsanwaltlichen Maßnahmen drei Tage vor der Landtagswahl
gegen den designierten Justizminister des "Schattenkabinetts" der CDU
durchgeführt worden sind. Andere ausreichende Anhaltspunkte für eine
bewusste Irreführung des Bundestages sind nicht vorgetragen.
Auch aus dem Grundsatz der Bundestreue in Verbindung mit dem
Immunitätsrecht lässt sich ein Bund und Land verbindendes materielles
Verfassungsrechtsverhältnis nicht herleiten. Das verfassungsrechtliche
Gebot des bundesfreundlichen Verhaltens als solches schafft kein
materielles Verfassungsrechtsverhältnis zwischen Bund und Land. Nur
innerhalb eines anderweitig begründeten gesetzlichen oder vertraglichen
Rechtsverhältnisses oder einer anderweitig rechtlich begründeten
selbständigen Rechtspflicht kann die Regel vom bundesfreundlichen
Verhalten Bedeutung gewinnen, in dem sie diese anderen Rechte und
Pflichten moderiert, modifiziert oder durch Nebenpflichten ergänzt.
Dabei brauchen diese anderweitigen selbständigen Rechte und Pflichten
keineswegs verfassungsrechtlicher Natur zu sein. Zur Geltendmachung in
einem Bund-Länder-Streit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG eignet sich das
Prinzip bundesfreundlichen Verhaltens jedoch nur dann, wenn es im Rahmen
eines verfassungsrechtlichen Verhältnisses zur Anwendung gelangt.
Da der Bund-Länder-Streit nur für Meinungsverschiedenheiten über Rechte
und Pflichten aus der Verfassung offen steht, nicht jedoch für
Auseinandersetzungen über einfachgesetzliche Rechte und Pflichten,
vermag auch der Bezug zum Immunitätsrecht ein streitiges materielles
Verfassungsrechtsverhältnis hier nicht zu begründen. Im vorliegenden
Fall steht lediglich die Verletzung einfachgesetzlicher Pflichten in
Rede. Dem Bund kommt keine allgemeine Verfassungs- und Rechtsaufsicht
zu. Der Bund-Länder-Streit dient wie das Organstreitverfahren dem Schutz
der Rechte der Staatsorgane im Verhältnis zueinander, nicht einer
allgemeinen Verfassungs- und Rechtsaufsicht.
Durch die Entscheidung in der Hauptsache hat sich ein von der
Antragstellerin ebenfalls gestellter Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung erledigt.
BVerfG, Beschluss vom 24. Januar 2001 - Az. 2 BvE 1/00 -