STAATSRECHT
Zur unentgeltlichen Rechtsberatung durch einen berufserfahrenen Juristen
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Die Verfassungsbeschwerde (Vb) eines pensionierten Richters
(Beschwerdeführer; Bf), der sich gegen eine Verurteilung zu einer
Geldbuße wegen unerlaubter geschäftsmäßiger Besorgung fremder
Rechtsangelegenheiten zur Wehr setzte, war erfolgreich. Die 3. Kammer
des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die der Verurteilung
zugrunde liegenden Entscheidungen des Oberlandesgerichts (OLG)
Braunschweig und des Amtsgerichts (AG) Braunschweig aufgehoben, weil sie
den Bf in seinem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß
Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes verletzen. Die Sache wird an das AG
zurückverwiesen.
Zum Sachverhalt:
Der Bf wurde in einem vor dem Amtsgericht durchgeführten
Bußgeldverfahren von dem Gericht als Wahlverteidiger eines Betroffenen
zugelassen. Nach Abschluss dieses Verfahrens zeigte sich der Bf bei der
Staatsanwaltschaft selbst an. Er habe nicht nur in dem vorliegenden
Verfahren, sondern auch in der Vergangenheit „häufig und in großem
Umfang“ rechtsbesorgende Tätigkeiten ausgeübt und wiederholt „andere
Bürger in Rechtssachen eingehend individuell beraten“. Eine Genehmigung
nach dem Rechtsberatungsgesetz besitze er nicht. Er werde derartige
Rechtsbesorgungen auch in Zukunft übernehmen. Wegen einer
Ordnungswidrigkeit nach dem Rechtsberatungsgesetz wurde eine Geldbuße in
Höhe von DM 600,-- gegen ihn verhängt. Rechtsmittel blieben ohne Erfolg.
Mit seiner Vb rügt der Bf unter anderem die Verletzung seiner
allgemeinen Handlungsfreiheit. Die von ihm unentgeltlich übernommenen
Rechtsbesorgungen seien nicht geschäftsmäßig im Sinne des
Rechtsberatungsgesetzes erfolgt. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben bei
der Auslegung des Begriffs der Geschäftsmäßigkeit seien bei seiner
Verurteilung nicht hinreichend berücksichtigt worden.
In den Gründen der Entscheidung heißt es:
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der
Erlaubnisvorbehalt für die Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten nach
dem Rechtsberatungsgesetz verfassungsgemäß. Das Rechtsberatungsgesetz
dient dem Schutz des Rechtsuchenden sowie der geordneten Rechtspflege.
Zur Erreichung dieser Zwecke ist es erforderlich und angemessen.
Die angegriffenen Gerichtsentscheidungen genügen jedoch nicht den
verfassungsrechtlichen Anforderungen, die sich aus dem Grundrecht der
allgemeinen Handlungsfreiheit in Verbindung mit dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit ergeben. Was geschäftsmäßige Rechtsberatung im Sinne
des Rechtsberatungsgesetzes ist, muss im Einzelfall abgeklärt werden.
Bei der Gesetzesauslegung und der Rechtsanwendung sind sowohl die durch
das Rechtsberatungsgesetz geschützten Belange wie auch die
Freiheitsrechte des Einzelnen zum Ausgleich zu bringen. Das
Rechtsberatungsgesetz unterliegt wie andere Gesetze auch einem
Alterungsprozess. Mit dem Wandel des Umfelds sozialer Verhältnisse und
gesellschaftspolitischer Anschauungen kann sich auch der Norminhalt
ändern. Deshalb müssen die Gerichte prüfen, ob die gesetzliche Regelung
zwischenzeitlich lückenhaft geworden ist. Die Bindung des Richters an
das Gesetz bedeutet nicht Bindung an dessen Buchstaben, sondern
Gebundensein an Sinn und Zweck des Gesetzes. Bei mehreren
Deutungsmöglichkeiten einer Norm ist diejenige zu bevorzugen, die den
Wertentscheidungen der Verfassung entspricht. Das Grundrecht der
allgemeinen Handlungsfreiheit ist insbesondere dann verletzt, wenn die
Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts die grundrechtliche
Freiheit unverhältnismäßig einschränkt. Das Bundesverfassungsgericht hat
die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts zwar grundsätzlich
nicht nachzuprüfen. Bei Auslegungsfehlern in einer Entscheidung jedoch,
die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung
eines Grundrechts, insbesondere von dessen Tragweite, beruhen, hat das
Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen Verfassungsrecht zu
korrigieren.
Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben halten die angegriffenen
Entscheidungen nicht stand. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wurde
nicht hinreichend beachtet. Die Gerichte haben bei der Auslegung und
Anwendung der Vorschriften des Rechtsberatungsgesetzes nicht erwogen, ob
der Begriff der „Geschäftsmäßigkeit“ unter Berücksichtigung der durch
das Rechtsberatungsgesetz geschützten Interessen und des Grundrechts des
Bf auf allgemeine Handlungsfreiheit von Verfassungs wegen im konkreten
Fall eine Auslegung erfordert, die die unentgeltliche Rechtsbesorgung
durch einen berufserfahrenen Juristen nicht erfasst. Die Schutzzwecke
des Rechtsberatungsgesetzes werden durch die rechtsbesorgende Tätigkeit
des Bf möglicherweise nicht berührt. Dies legen bislang nicht beachtete
konkrete Umstände nahe. So blieb ungeprüft, ob ein Verbot der einzelnen
vom Bf übernommenen Rechtsbesorgungen geeignet und notwendig gewesen
ist, um die durch das Rechtsberatungsgesetz geschützten Rechtsgüter zu
wahren, und ob weniger belastende Maßnahmen dazu ausgereicht hätten. Die
Auslegung des Begriffs der Geschäftsmäßigkeit im Sinne der ständigen
Rechtsprechung der Fachgerichte wird den besonderen Umständen des
vorliegenden Einzelfalls nicht gerecht. Angesichts der beruflichen
Vorbildung des Bf, seiner langjährigen Erfahrung in verschiedenen
juristischen Tätigkeitsfeldern sowie der konkreten Umstände, unter denen
er jeweils rechtsbesorgend tätig geworden ist, ist fraglich, ob die
Schutzzwecke des Rechtsberatungsgesetzes überhaupt berührt sind. Weiter
wäre zu prüfen, ob in Anbetracht der Zulassung des Bf als Verteidiger
und seiner juristischen Qualifikation den durch das
Rechtsberatungsgesetz geschützten Rechtsgütern nicht bereits hinreichend
Rechnung getragen worden ist. Ungeprüft blieb bislang weiter, ob in der
Zwischenzeit eine Veränderung der Lebenswirklichkeit eingetreten ist,
die das Rechtsberatungsgesetz ergänzungsbedürftig und zugleich
ergänzungsfähig hat werden lassen. Der Wortlaut der Regelung des
Rechtsberatungsgesetzes über den Erlaubnisvorbehalt könnte im konkreten
Fall über den Sinn und Zweck des Gesetzes hinausgehen, so dass von
Verfassungs wegen eine einschränkende Auslegung geboten ist.
Beschluss vom 29. Juli 2004 - 1 BvR 737/00 -
Karlsruhe, den 5. August 2004