EU-RECHT
Kindermärchen auch mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen
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Straßburg (jur). Auch in Kindermärchen muss die Darstellung gleichgeschlechtlicher Paare möglich sein. Allein die bloße Erwähnung gleichgeschlechtlicher Beziehungen und der soziale Status sexueller Minderheiten in einem Kindermärchen ist für Kinder nicht schädlich, urteilte am Montag, 23. Januar 2023, die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (Az.: 61435/19). Die Straßburger Richter sprachen damit der Mutter einer verstorbenen litauischen Kinderbuchautorin wegen der Verletzung der Meinungsfreiheit eine Entschädigung von 12.000 Euro sowie weitere 5.000 Euro für angefallene Verfahrenskosten zu.
Im Streitfall ging es um das an neun- und zehnjährige Kinder gerichtete Märchenbuch „Bernsteinherz“ der offen lesbischen Kinderbuchautorin Neringa Dangvydė Macatė. Im Dezember 2013 veröffentlichte die litauische Universität für Erziehungswissenschaften das Buch, welches teilweise auch vom Kulturministerium mitfinanziert wurde.
In dem Buch, welches sich an traditionelle Märchen anlehnt, kommen Themen und Figuren vor, die Kinder bewegen. Dazu gehören etwa ethnische Gruppen, geistige Behinderungen oder auch Themen wie Mobbing, geschiedene Eltern und Auswanderung. In zwei der sechs Märchen geht es auch um Geschichten über Beziehungen und Ehen zwischen gleichgeschlechtlichen Menschen.
Kurz nach der Veröffentlichung ging beim Kulturministerium eine Beschwerde ein, wonach das Buch „zu Perversionen anregt“. Das Ministerium beauftragte die zuständige Aufsichtsbehörde für „journalistische Ethik“ mit einer Prüfung, ob das Buch für Kinder schädlich sei. Zwischenzeitlich hatten sich auch acht Mitglieder des litauischen Parlaments an die Universität gewandt und darauf hingewiesen, dass das Märchenbuch Kindern die gleichgeschlechtliche Ehe als „willkommenes Phänomen“ nahebringen will.
Die Aufsichtsbehörde entschied, dass das Buch mit dem Jugendschutz nicht vereinbar sei, da darin eine „Verachtung der Familienwerte zum Ausdruck“ gebracht werde. Es habe negative Auswirkungen auf Kinder. Der Vertrieb des Buches wurde daraufhin eingestellt. Erst ein Jahr später, nachdem das Buch mit einem Warnhinweis versehen wurde, dass es für Kinder unter 14 Jahren schädlich sein könnte, wurde es erneut in den Vertrieb aufgenommen.
Die Kinderbuchautorin sah in dem Vorgehen ihr Recht auf Meinungsfreiheit verletzt und zog vor Gericht. Das Regionalgericht Vilnius stellte fest, dass einige Passagen sexuell zu eindeutig waren. Die Autorin habe mit der Art und Weise, wie sie in den Märchen ein neues Familienmodell darstelle, offenbar versucht, jene zu diskriminieren, die andere Werte als sie selbst vertreten.
Da die lesbische Autorin während des Verfahrens im März 2020 starb, führte ihre Mutter den Rechtsstreit vor dem EGMR fort.
Der EGMR urteilte, dass Litauen mit der vorübergehenden Aussetzung des Vertriebs des Buches sowie dem dann verlangten Warnhinweis die Meinungsfreiheit der Autorin verletzt habe. Dass etwa eine Passage, in der eine Prinzessin nach ihrer Hochzeit in den Armen der Tochter eines Schuhmachers einschlief, „fleischliche Liebe“ darstellen solle, sei nicht erkennbar. Es gebe auch keine Beleidigungen verschiedengeschlechtlicher Beziehungen oder eine Förderung gleichgeschlechtlicher Familien. Vielmehr habe die Autorin die Achtung und Akzeptanz aller Mitglieder einer Gesellschaft propagiert und sei für eine feste Beziehung zwischen Paaren eingetreten.
Die staatliche Universität und die litauischen Behörden hätten mit dem Vorgehen gegen das Kinderbuch den Zugang von Kindern zu Informationen über gleichgeschlechtliche Beziehungen und deren gleichwertige Darstellung beschränken wollen. Dies sei mit den in einer demokratischen Gesellschaft bestehenden Werten der Gleichheit, des Pluralismus und der Toleranz nicht vereinbar, betonte der EGMR.
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Autor: Rechtsanwalt Sebastian Einbock